"Es kann gut sein, dass ihnen (den jungen Leuten, Ergzg.d.Vf.) dieser Dom Molise dann so vertraut wird wie Salingers Typ Holden Caulfield" schrieb Jo PESTUM in der ZEIT unter Bezug auf den jugendlichen Protagonisten von John FANTES Anfang der 80er Jahre erschienenem Roman "1933 was a Bad Year" (dt.: "Es war ein merkwürdiges Jahr"), in der deutschen Übersetzung von Doris ENGELKE 1988 als Goldmann-Taschenbuch veröffentlicht.
Der Charme der Mittelschicht oder: wie überleben jugendliche Helden in Romanen
Dass diese Voraussage nicht zutreffend sein würde, war vorauszusehen. Holden Caulfield, der "Fänger im Roggen", hat sich in das literarische Gedächtnis von Millionen von Lesern in aller Welt vor allem deshalb eingeschrieben, weil er den Nöten eines Jugendlichen der Mittelschicht Ausdruck verleiht, deren Unentschiedenheit hinsichtlich des Berufs, ihrer sexuellen Probleme und der latenten, andauernden Unzufriedenheit mit den Leitvorstellungen der eigenen Klasse, unter anderem. Dom Molise dagegen verkörpert einen Jugendlichen der Arbeiterschicht, und so einer hält sich nicht viel länger im Leserbewusstsein als etwa die Ideen der Autoren des schwarzen Kursbuchs aus den sechziger Jahren, die Literatur betreffend, wenn er nicht, wie Alan SILLITOEs "Langstreckenläufer", zugleich einen kriminellen Hintergrund als Leseanreizmittel aufzuweisen hat. Dom Molise kennt nur das eherne Gesetz der Armut und die Not sexueller Frustration. Er teilt als Romanfigur das Schicksal relativ geringen literarischen Nachhalls mit Leonhard Knie, dem Münchner Vorstadtjungen in Siegfried ("Siggi") SOMMERs "Und keiner weint mir nach", der kurz nach dem "Catcher in the Rye" erschien.
Der Erfolg des "Typs" Holden Caulfield beruht aber auch darauf, dass SALINGERs Erzählen wesentlich vielschichtiger angelegt ist als dasjenige FANTEs, der in der Tradition Sherwood ANDERSONs steht. Vor allem der digressive Stil des Erfinders von Holden, das Erzählen des "Abschweifens", ermöglicht ein weites Ausgreifen in Zeit und Raum. So entsteht beim Leser zugleich der Eindruck eines Erlebnis- und Erfahrungshorizonts des jugendlichen Helden, der viel breiter ist als der seines Altersgenossen Dom Molise; und das, obwohl Dom in seiner Standortbestimmung, die er am Anfang des Romans vornimmt, buchstäblich über "Gott und die Welt" nachdenkt.
Wenn sich die Qualität eines Romananfangs danach bemisst, ob gewissermaßen alle Akkorde darin angeschlagen werden, aus denen sich das Werk aufbaut, dann ist der Beginn des "Catcher" ein Meisterstück. Der unverwechselbare Sprechton des Protagonisten, der sich selbst vorstellt, die Sprachebene, auf der er sich bewegt, sein Wortschatz, seine Redefiguren, die umgangssprachlichen, slanghaltigen Wendungen, die Übertreibungen und Untertreibungen, das Timbre der Unsicherheit verdeckenden Leichtigkeit, all dies setzt die sprachliche Stimmung, die den ganzen Roman hindurch aufrechterhalten wird.
Holden Caulfield auf der Suche nach Orientierung
Die Thematik, das Verhältnis des Jugendlichen zu seiner gesellschaftlichen Umwelt und der Versuch der Begründung der eigenen Identität, wird im Bezug zur Familie - der Betonung der Geschwister, hier des schreibenden Bruders D.B., gegenüber den Eltern, die damit in Distanz gesetzt werden - umgrenzt, die Schule wird als Ansatzpunkt der Kritik ausgewiesen. Das Prinzip der scheinbar beiläufigen Verknüpfung unterschiedlicher Beobachtungen wird deutlich, es reicht bis zur verdeckten Kundgabe des literarischen Anspruchs (Hinweis auf David Copperfield, Anspielung auf Sherwood ANDERSON und Mark TWAIN) und den selbstironischen Verweis auf das Kurzgeschichten-Werk des Autors ("Der geheime Goldfisch"). Die Umgrenzung des Erzählzeitraums ist ebenso gegeben, wie die im Roman beständig hervorgehobene Möglichkeit von Kindern und Jugendlichen, der Welt der Erwachsenen eine Gegenwelt entgegenzusetzten.
Das Motiv der Gesellschaftskritik deutet sich besonders an dem letzten Satz des berühmten ersten Abschnitts an, in dem Holden seine Abneigung gegen Filme äußert; diese Kritik verbindet er mit einer indirekten Kritik an seinem Bruder, dem zur Zeit für die Filmindustrie arbeitenden Schriftsteller, der sich jetzt ein großes Auto leisten kann.
Holden trifft damit das Herzstück US-amerikanischer Kultur und zugleich das
wesentliche Anliegen aller jugendlichen Romanhelden: das Moment der Täuschung und Selbsttäuschung,
mit anderen Worten: die Suche nach Orientierung.
Im Fall des "Catchers" wird diese Suche in die dichotomische Weltsicht einer vom Gegensatz
zwischen "phoney" und "nice people" bestimmten Gesellschaft münden, in der die "nice ones"
meist die Verlierer sind.
Die Rolle, die der Sport im Einleitungsteil des "Fängers im Roggen" spielt,
wird dagegen weniger beachtet.
Dom Molise, der Gegensatz von Arm und Reich und dessen Überwindung durch den Sport
Der Gegensatz, den Dom Molise in der Gesellschaft wahrnimmt, ist wesentlich einfacher, vor allem ist er nicht psychologischer, sondern sozialer Art: es ist der Gegensatz zwischen Arm und Reich.
Dieser Gegensatz konstituiert den Roman überhaupt; damit ist die grundlegende Bedeutung des Sports gegeben, denn Sport bietet Dom Molise die einzige Möglichkeit, aus der Kleinstadt herauszukommen und den gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen. Während Holden Caulfield Abschied von seiner Schule nimmt, von der er wegen schlechter Leistungen relegiert wird, zunächst also hauptsächlich aus einer rückblickenden Perspektive erzählt, versucht Dom Molise eine Bestandsaufnahme seiner Situation mit dem Blick auf die Zukunft. Beide sind in der Position des Alleinseins, das durch die winterliche Jahreszeit, in der sie in ihr Erzählen eintreten, noch verstärkt wird. Holden befindet sich auf dem Schulgelände am vornehmen Stadtrand New Yorks, Dom im verschneiten Roper, Colorado, auf dem Weg in sein ärmliches Zuhause. Dom beginnt seine Standortbestimmung mit einer Anrufung Gottes, von dem er sein Recht auf guten Rat einfordert, das er damit begründet, dass er sich religiöser Unterweisung ebenso unterzogen habe wie der Befolgung der Gebote der katholischen Kirche; durch die Äußerung seiner Zweifel an der Entscheidungsfähigkeit Gottes versucht er diesen gewissernmaßen "aus der Reserve zu locken". Sein Sprechton verrät Ungeduld und Entschlossenheit zugleich.
Gott antwortet natürlich nicht, sondern erweist sich als Schöpfer. Im übernächsten Abschnitt zeigt sich, dass er den Jungen mit einem linken Arm ausgestattet hat, der alle Eigenschaften aufweist, die der Arm eines überragenden Pitchers im Baseballspiel haben muss. Damit hat Gott gewissermaßen das Manko ausgeglichen, das darin besteht, dass er Dom "aus einem armen Maurer erschaffen hatte". Deutlich erkennbar ist der fabelhafte Pitcher-Arm als das eigentliche Faszinosum des Romananfangs angelegt. Dom bedenkt ihn mit Wendungen, wie sie zur Lobpreisung eines Heiligen, den man als Patron verehrt, passen würden: "Dieser wunderbare linke Arm, meinem Herzen am nächsten." In der Tat verleiht ihm der Arm die Sicherheit und das Selbstvertrauen, das er braucht, er ist seine Stütze, wenn ihn Verzweiflung angesichts der Trostlosigkeit des Provinzstädtchens, der Armut und der Vergänglichkeit zu übermannen drohen. "Während ich noch rannte", heißt es, nachdem Dom über die Vergänglichkeit allen Lebens, besonders aber der in seiner Familie mit ihm Zusammenlebenden nachgedacht hat, "wurde der Arm, der gute linke Arm, Herr der Lage und sprach beruhigend auf mich ein ..." Das Besondere, einmalige, dieses hier und auch später mehrfach personifizierten Armes wirkt insofern noch einmal verstärkt, als die Gliedmaße bei der Selbstvorstellung des Ich-Erzählers überhaupt nicht erwähnt worden war, wo sich Dom als unattraktiven, beinahe hässlichen Achtzehnjährigen beschrieben hatte: "... Ich war 163 Zentimeter groß und in den letzten drei Jahren keinen Zentimeter gewachsen. ich hatte Säbelbeine, lief über den großen Onkel, und meine Ohren standen ab wie die von Pinocchio. Meine Zähne standen schief, und mein Gesicht war gesprenkelt wie ein Vogelei."
Der Ausnahmestellung, die ihm der Arm verliehen hatte, ist sich Dom bewußt, auch wenn er durch ihn zum Außenseiter in seiner peer group zu werden droht. Da er ihn zum Schutz gegen Kälte und Wind mit "Sloan's Liniment" einreibt, wird er des öfteren aus der Klasse geschickt, um den beißenden Geruch zu beseitigen. "... aber ich ging stolz und ohne Scham, schließlich wußte ich um meine Bestimmung, und das stählte mich gegen die Beleidigungen der Jungs und die gerümpften Nasen der Mädchen."
Dom's Arm - Gottes "Geschoss"
Das Bewusstsein einer "Bestimmung" hilft dem Jungen auch über die latente Diskriminierung durch seine italienische Abstammung hinweg, ohne dass dies ihm wirklich klar wird. Was ihm klar ist, ist der Zusammenhang zwischen der Herkunft seiner Familie und der Armut. Aber auch hier kommt die Zuversicht aus dem Bereich des "Geschosses", das Gott ihm "angeheftet" hat: keiner der berühmten Baseballspieler wie Babe Ruth oder Joe Di Maggio entstammen einer wohlhabenden Familie, alle hatten arme Eltern. Der Zusammenhang zwischen Familie, Religiosität und sportlichem Erfolg ist deutlich wirksam. Die Gläubigkeit der Großmutter Bettina und der Mutter wird dem Jungen zwar bisweilen als komisch erscheinen, sie ist aber zusammen mit der unbestrittenen Autorität des familialen Zusammenhalts ein Ordnungselement, das sich auch auf den Sport übertragen lässt. Daran ändert sich auch später nicht viel, als der Junge den Vater fremdgehen sieht (und in diesem Fremdgehen wieder eine Sehnsucht nach Harmonie entdecken muss) und sich schließlich zum Entwenden der väterlichen Betonmischmaschine, also zur offenen Auflehnung, entschließt - dient diese Aktion doch auch nur zur Deckung des Fahrpreises ins kalifornische Trainingscamp der Chicago Cubs, wo er seine Karriere beginnen lassen will, die wiederum zur Unterstützung der Familie führen soll.
Wenn er aufhören würde zu glauben, würde sein Spiel den notwendigen Drive und den nötigen Rhythmus einbüßen, dessen ist sich Dom bei seiner Bestandsaufnahme sicher, die den Roman einleitet. Sie scheint ein Ordnungselement zu sein wie die Regelmäßigkeit des Trainings, zu der ihn seine Begabung verpflichtet und die ihm offenbar bereits Erfolge als junior player und damit auch eine gewisse Popularität in seiner Heimatstadt eingebracht hat.
Nicht ganz klar ist indessen die Rangfolge, die die Erlebnisbereiche Religion, Familie und Sport in seinem Weltbild darstellen. Hier scheint - und das ist nur altersentsprechend - alles noch plastisch zu sein. Eine Gedankenkette, die von einer Mythe der Großmutter ausgelöst wird, die Schneeflocken als Besucher der Seelen Verstorbener deutet, führt den Jungen über die Betrachtung der Vergänglichkeit zu einer phantastischen Vorstellung, in der sich Selbstmitleids- mit Erfolgsphantasie mischen. Er sieht seinen Tod voraus, an dem die ganze Nation Anteil nimmt. Ähnliche Phantasien, finden sich auch im Bericht Holden Caulfields, nur dass bei diesem Jungen bezeichnenderweise die pessimistisch-melancholishce Gestimmtheit und eine Linie hin zur Selbstironisierung spürbar wird, die das Grundgefühl des "loser"-typs erahnen lässt. An diesem Punkt wird anzuknüpfen sein, wenn die Verwertung des Motivs Sport durch SALINGER am Anfang seines Romans zur Diskussion steht.
Ratschläge des linken Arms: Leistung und Gewalt - Taylorisierung des Sports
Als sich die Vergänglichkeitsgedanken des Pitchers bedrohlich zu verdichten scheinen, rät ihm sein Arm ganz pragmatisch, zunächst auf sportliche Leistungen in der minor league hinzuarbeiten, sich einen Ruf als erfolgreicher Spieler zu erwerben und erst nach erreichtem Erfolg über religiöse Dinge nachzusinnen. Der Arm nimmt als Ratgeber also im Verlauf des romaneinleitenden Kapitels die Rolle Gottes ein, der zunächst als Ratgeber angerufen wurde. Der Eindruck der Rollenverschiebung oder gar -vertauschung ist nicht ganz von der Hand zu weisen: auch wenn man annehmen kann, dass durch den Arm Gott als gerecht Armut und Chancen verteilende Instanz sich vernehmen lässt, so könnte ebensogut die Dominanz des Leistungsgedankens der modernen Gesellschaft über die originäre Religiosität an diesem Romananfang ablesbar werden. Die Verquickung von religiöser Haltung, ja Berufung, mit dem beruflichen Erfolg, wie sie als Renaissance des aus puritanischen Quellen gespeisten Kapitalismus, des Neokonservatismus sich als zeitgeschichtliche Größe greifbar macht, kann hier in der Widerspiegelung durch den Sport angesetzt werden. Fragen, die sich für den Leser mit Bezug auf den Zusammenhang zwischen literarischer Form und gesellschaftlichen Diskursen ergeben, werden von der Bedeutung des "Juwels" Arm ausgehen.
Eigentlich ist es falsch, wenn Dom Molise von einem "Geschoss" spricht, das ihm Gott an die Schulter geheftet habe; es müsste "Pistole" oder "Revolver" heißen, denn das Geschoss ist der Ball, der Arm ist das Gerät, aus dem der Ball hervorschießt. Ähnlichkeit eines für eine Sportart wichtigen Körperteils mit einer Waffe bennenen die Beinamen von Spielern, wie etwa der für Fußballspieler immer wieder gewählte Beiname "Hammer" (Juskowiak d.Ä., Albertz u.a.). Entsprechend beschreibt Dom seinen Gang als den eines Revolverhelden mit herabhängender linker Schulter und schlangenartig baumelndem Arm. Hier über den Zusammenhang von Sport und Gewalt nachzudenken, scheint sinnvoller zu sein als die psychologische Diagnose darüber abzuwarten, was geschehen ist, wenn ein Körperteil zum "Selbst" eines Ich geworden ist. Sport ist körperliche Gewalt, die durch Spielregeln gebändigt und durch das Spielfeld begrenzt wird, aber er bleibt eben doch Gewalt. Der Pitcher muss den Batter hart treffen, auch wenn der Zweck des Wurfes ist, das Zurückschlagen des Balles durch den Batter zu verhindern. Der Wurf muss überraschend erfolgen, den Ansatz des Wurfes zu erkennen, muss dem Gegenüber möglichst verwehrt bleiben - es wird sozusagen "aus der Hüfte geschossen". Ohne Zweifel ist also auch das Gehirn über das Auge and dem Vorgang beteiligt, wenn dieser erfolgreich sein soll. Das blitzartige Zusammenspiel der Organfunktionen macht die Qualität des Sportlers in jeder Sportart aus. Dass gewisse Arten des gesellschaftlichen Erfolges durch rasches Ausnutzen eigener Fähigkeiten in einer bestimmten Situation erreicht werden, ist gleichfalls unbezweifelbar. Und so gibt es genügend Theorien des Sports, die ihn als Abbild des gesellschaftlichen Agierens interpretieren; seine Faszination für die Massen werde dadurch verstärkt, dass es gerade auf diesem Gebiet Mitgliedern der Gesellschaft möglich wird, Erfolge zu erzielen, denen sie ansonsten verwehrt bleiben. Doms Vergötterung seines Wurfarms könnte eine Form sein, sich den gesellschaftlich anerkannten Ausgleich des gesellschaftlich bedingten Nachteils anzueignen - und zugleich das Moment der Gewalt, deren Anwendung ihm vernünftigerweise nutzlos erscheinen muss, zu neutralisieren, besser gesagt: zu kanalisieren. Eine gesellschaftliche Lage ist hier in Form einer Privatideologie eines Adoleszenten verinnerlicht, die psychische Ökonomie herstellt. Sie muss unkritisch bleiben, da sonst ihr Bestand gefährdet wäre. Nur in den Bildern von Gewalt bleibt der Rest der gesellschaftlichen Gewalt erhalten, denen sich der Junge ausgesetzt sieht.
Der Sportsoziologe Gerhard VINNAI erkennt in der unaufhaltsamen Taylorisierung des modernen Sports dessen wesentliches Merkmal. Gemeint ist damit die in der Industriewelt gängige Zerlegung von Arbeitsgängen und deren Perfektionierung. In der Übertragung dieser Methode auf den Sport ergibt sich die Aufteilung einzelner Bewegungsabläufe, von Körperzonen und Spielsituationen, die jeweils voneinander abgetrennt trainiert (und auch analysiert) werden; die Skala der Möglichkeiten reicht bis zum psychologischen "Fitmachen". Am augenfälligsten tritt diese Taylorisierung in den (leicht)athletischen Disziplinen und Einzelkampfsportarten hervor, sie ist aber längst auch im Trainingsbetrieb der Mannschaftssportarten gang und gäbe.
Dom Molises Arm wirkt wie die Illustration dieser sportsoziologischen
These. Der Arm ist für das materielle Fortkommen des Jungen (aber auch für sein
Selbstbewusstsein) zum wichtigsten Teil seiner Person geworden.
Trotzdem oder gerade deshalb wirkt er als von der Person in gewisser Weise Isoliertes,
das einem speziellen Training zugeführt wird und dem auch entsprechend spezielle
Schutzmaßnahmen gelten.
Literarisch abgebildet ist dabei aber nicht nur der Sport moderner Prägung, sondern
auch die Abhängigkeit des Proletariers von seinem Körper, dessen Kraft sein Kapital
darstellt; er braucht es, um sich in der Gesellschaft zu erhalten, und zwar in der
doppelten Bedeutung des Wortes.
Der männliche Blick: Funktionalität der Körperteile, Agressivität und Sexualität
Einem an der Gender-Forschung interessierten Betrachter des Textes wird auffallen, dass die Rolle, die Dom Molises Arm (und damt der Sport) in diesem Romananfang spielt, einer durchaus männlichen Sehweise entspricht; aber nicht nur diese Textformante, sondern auch der Aufbau - in der Form der Anordnung der Kommunikationspartner - weist die Dominanz des männlichen Elements auf.
Da ist zunächst die isolierende Sicht auf den menschlichen Körper, die dem Blick des Mannes auf körperliche Erscheinung zuzuordnen ist. Der Blick des Mannes gilt dem einzelnen Körperteil, den er nach Aussehen und Funktion taxiert. Stärken und Schwächen, Attraktivität und Häßlichkeit werden aufmerksam notiert, die Visualität geht der Taktilität voran. Molises Arm ist funktionsgerecht geformt, und das ist das Entscheidende; er ist für den sportlichen Wettkampf gewissermaßen prädestiniert, die Realisation einer Zielvorstellung. Dagegen tritt das übrige körperliche Detail in den Hintergrund, es kann bestenfalls dienende Funktion haben. Ein "weibliches" Ganzheitsempfingen, das auch andere als die optimale Nutzung des Körpers im Auge hätte, kommt nicht zum Tragen. Wir sehen eine weitere Form der Taylorisierung am Werk.
Im Übrigen entspräche Dom in seinem Verhältnis zu seiner Waffe Arm auch dem Standpunkt des aktuellen Selbstverständnisses von Männlichkeit; dem zu Folge wird vom modernen Mann gefordert, dass er körperlich "an sich arbeitet", an seinem Körper arbeite, um sein Erscheinungbild gegenüber den Mitmenschen - besonders wohl zu denjenigen, von denen er beruflich abhängig ist - zu verbessern, nicht zuletzt auch vor den Frauen. Erfolg wird von einem hohen Prozentsatz der erfolgreichen Männer auf dieses Entscheidungsfähigkeit signalisierende, am Körper abzulesende "An-Sich-Arbeiten" gewährleistet, wie einschlägige Untersuchungen belegen. Wer es nicht erkennen lässt, fällt unausgesprochener Verachtung anheim. Dass hierbei die alte "Körperkraft-als-Kapital"-Vorstellung in neuem Kleid auftritt, ist ebenso unbestreitbar wie die Tatsache, dass sich in dieser Hinsicht weibliche von männlicher Rollenerwartung "zunehmend weniger" unterscheidet. Die Hervohebung einer einzelnen körperlichen Extremität legt andererseits den Gedanken an eine bestimmte Sexualmetaphorik nahe. Hierzu tritt der Umstand, dass dem Pitcher eine besonders aggresive Rolle im Baseballspiel zukommt; er eröffnet das Spiel mit einem Akt des Angriffs und er hat dabei den Körper des Gegners zu treffen. Batter und Catcher erfüllen dagegen eine (vergleichsweise) defensive Aufgabe.
Wenn man annimmt, dass die männliche Sexualität durch Aggressionsbereitschaft gekennzeichnet ist, männliche Lust eine starke aggresive Komponente enhält, dann ist hiermit die Verbindung von Sport und Sexualität angedeutet. Man muss sich dabei daran erinnern, dass im Text die Pitcher-Qualitäten eine herausragende Funktion haben. Ein Blick über den Romananfang hinaus scheint eine solche Verbindung zu rechtfertigen. Die erste körperliche Annäherung Doms an eine junge Frau, die um fünf Jahre ältere Schwester seines aus wohlhabender Familie stammenden Trainingspartners, eine Studentin, in deren Bewunderung er zunächst buchstäblich erstarrt, trägt aggressive Züge; sie erfolgt als Überfall, der Junge versucht der jungen Frau die Kleider vom Leib zu reißen und sie an allen möglichen Stellen ihres Körpers zu küssen, während er sich mit ihr auf dem Boden wälzt. Zuvor hat er "einen Ständer", der ihn zwingt, sich im Trainingsraum ein Suspensorium unter die Unterhose zu ziehen. Auch bei der ersten Unterhaltung mit Dorothy im Geschäft ihres Vaters lässt der Autor eine Situation auftreten, bei der der Junge das Genitale seiner Gesprächspartnerin, die auf einer Leiter über ihm steht, zu Gesicht bekommt. Der Vergleich mit den Genitalien der weiblichen Mitglieder seiner Familie - die einzigen, von denen er bis dato einen Blick erhascht hatte - veranlasst ihn zu einer recht ausführlichen Beschreibung des Unterschieds, eines Unterschieds zwischen Häßlich und Herrlich, Tot und Lebendig.
Solche Szenen wären im "Catcher in the Rye" undenkbar: Holden erinnert sich daran, wie Jane Gallagher im Kino zärtlich zu ihm war, Vorformen des Petting sind angedeutet, bei Sunny, der Prostituierten, "versagt" er, die mit körperlichen Reizen wohlausgestattete Sally Hayes übt wenig Wirkung auf den Jungen aus, weil er in ihr eine "Queen of Phonies" zu erkennen glaubt; dabei hatte er sich als "sexy bastard" bezeichnet.
Die Personen, die im Anfangsabschnitt des Romans Doms Gedanken beherrschen, sind männlichen Geschlechts. Aus der Dreifaltigkeit Gottes wird bezeichnenderweise Gottvater herausgelöst und angerufen, nicht etwa Gottes Sohn. Der leibliche Vater wird zweimal kurz genannt, Dom und sein personifizierter Arm folgen. die weiblichen Familienmitglieder spielen eine untergeordnete, passive Rolle: die Mutter betet um das Geld für einen neuen Anzug des Jungen zu dessen Abschlussfeier and der Schule, die Großmutter wird an Hand ihrer Erzählung von den Seelen verkörpernden Schneeflocken eingeführt, die jüngere Schwester kommt nur in der Nennung der Reihenfolge, in der die Familienmitglieder sterben werden - ebenso wie der jüngere Bruder und der Hund - vor.
An Gottvater wird die Frage gerichtet, ob er alles noch unter Kontrolle habe, wobei sich dies auf die persönlichen Verhältnisse Doms wie auf die Weltläufte allgemein bezieht; der Personifikation des Arms wird wenig später bescheinigt, dass sie die Kontrolle über die Gemütsverfassung seines zweifelnden Besitzers wiedererlangt habe. Die Familie ist, italienischer Tradition entsprechend, die alle Individuen umfassende und damit orientierende Instanz, sie wird allerdings klar von ihrer männlichen Seite beherrscht, diese allein scheint produktiv zu sein, Zukunft schaffen zu können; eben daran wird aber auch ihr Versagen gemessen.
Die Reihe Gott-Vater, leiblicher Vater, Sohn (Arm) bildet die Schöpfungskette ab, möglicherweise auch Doms Vorstellung von der Gesellschaft und ihrer Ordnung; auf jeden Fall ist deren im Sport liegender Bereich ebenfalls männlich dominiert. Der sportliche Arm muss in dieser von männlicher Leistung geprägten Gesellschaft die Zukunft erzeugen, so wie das männliche Genital Familie erst garantiert.
Kritik en miniature: SALINGERs Momentaufnahmen des Sports
Die dreifache Erwähnung des Sports in SALINGERs Romananfang ist
charakterisiert durch ihre Beiläufigkeit, so wie vieles im "Catcher" scheinbar beiläufig
ist und dennoch von Wichtigkeit; denn das Ganze des Romans ist als Beziehungs- und
Verweisungsgeflecht zu lesen.
Es fehlt jede Überhöhung des Sports wie sie bei FANTE durch die Personifizierung des
"Pitcher-Arms" gegeben ist.
Die mit dem Sport verknüpften Situationen sind Momentaufnahmen aus dem schulischen Leben,
und sie sind eingebettet in die Erinnerung an den Abschied von der Schule, aus dem
sie sich ergeben.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass alle drei
Momentaufnahmen eine Kritik en minature an der Gesellschaft via Schule und durch den
Sport enthalten.
Pencey gegen Saxton Hall - Holden nimmt Abschied am "Rande"
Zuallererst begegnen wir dem Sport am Thomsen Hill, wo Holden in einer lausigen Kälte steht. Der Name Thomsen Hill ist wahrscheinlich in Anspielung auf "Tom Sawyer" von Mark TWAIN gewählt; Tom begibt sich dann, wenn er allein sein und nachdenken will, auf einen bestimmten Hügel in Ortsnähe. Holden verfolgt einen ähnlichen Zweck: er will bewusst Abschied von Pencey, seiner bisherigen Schule, nehmen. Dass er von dort geschasst wurde, fügt er erst ein wenig später ein. Er gibt zwar zuerst an, wegen der - geplatzten - Auswärtsbegegnung seiner Fechtmannschaft so spät zu dem am Fuß des Hügels stattfindenden Football-Match zwischen Pencey und Saxton Hall gekommen zu sein, der wirkliche Grund liegt aber eben tiefer: "Es ist mir gleichgültig, ob es ein trauriger oder ein unerfreulicher Abschied ist, aber wenn ich irgendwo weggehe, will ich wenigstens wissen, dass ich jetzt weggehe."
Dem Spiel selbst schaut Holden nicht eigentlich zu, er nimmt dessen Ablauf nur wahr. Was er wahrnimmt, sind zwei Mannschaften, die sich über das Spielfeld "prügeln", sowie das fanatische Geschrei der Schüler-Fans, die optisch jedoch ausgeblendet sind. Sein Kommentar zu dieser Show ist bereits Kritik: "Das sollte für Pencey ein großes Ereignis sein. Es war das letzte match in diesem Jahr, und man erwartete von uns, dass wir mindestens Selbstmord begingen, falls unsere Schule nicht gewänne."
Der Junge ist also nicht nur durch die räumliche Entfernung vom sportlichen Geschehen distanziert, der fanatische "Schulpatriotismus" seiner Schulkameraden ist ihm fremd. Darin steckt gleichfalls Kritik: er erkennt offenbar, dass der Sport instrumentalisiert wird, um über die "sportliche Begeisterung" Zustimmung zum Institut Pencey zu erzeugen, eine Zustimmung, die nach seiner Ansicht diese Schule nicht verdient. Dass dem so ist, zeigen seine vorausgegangenen bissigen Bemerkungen über die Werbung, die die Privatschule in eigener Sache betreibt. "'Seit 1888 formen wir unsere Schüler zu fähigen, klardenkenden jungen Männern.' Reines Geschwätz. In Pencey wird ebenso wenig 'geformt' wie in jeder anderen Schule. Und mir ist dort keiner begegnet, der fähig und klardenkend gewesen wäre. Vielleicht höchstens zwei (...). Aber wahrscheinlich waren die schon so, bevor sie nach Pencey kamen."
Auch das Niederbrüllen der wenigen anwesenden Schüler der gegnerischen
Schule, eine Form der Aggressivität diesen gegenüber, stößt ihn offensichtlich ab. Die
Parallele zum "Prügeln" auf dem Sportfeld ist gegeben.
Die dem Zuschauen folgende Stelle über Selma Thurmer, die Tochter des Schulleiters,
bestätigt die in der Wahrnahme des Sports enthaltene Kritik an der Schule: dem wenig
attraktiven Mädchen mit den abgebissenen Fingernägeln und dem zugespitzten BH wird
bescheinigt, dass es "nice" ist, da es niemals den Versuch unternommen habe, ihren
Vater lobend herauszustellen. "Es gefiel mir vor allem, dass sie kein Süßholz
herunterraspelte, was für ein Prachtmensch doch ihr Vater sei. Vermutlich wusste
sie, dass er ein verlogener Esel ist."
In der U-Bahn stehengelassene Fechtausrüstung - die Komik des Losers
Nimmt der Ich-Erzähler an der ersten Begegnung mit dem Sport nur als eher uninteressierter Zuschauer teil, so findet die zweite Begegnung nur sozusagen virtuell, als reale Wettkampf-Begegnung überhaupt nicht, statt. Das Tunier zwischen den Fechtmannschaften einer New Yorker Schule und dem Team von Pencey, dessen "Kapitän" (BÖLL) oder "Manager" (SCHÖNFELD) Holden ist, muss ausfallen, da dieser die gesamte Ausrüstung seiner Fechter in der U-Bahn stehen gelassen hat. Auf der Heimfahrt würdigen ihn die Teamkollegen keines Wortes und keines Blickes. "Eigentlich war es ziemlich komisch", stellt Holden fest. Da hat er Recht: der Vorfall ist komisch, weil Holden seine eigentliche Aufgabe als Team-Manager vernachlässigt (angeblich musste er dauernd auf den Fahrplänen nachsehen, um die Umsteigebahnhöfe zu ermitteln), außerdem wirkt es komisch, wenn ein aufwendiges sportliches Unternehmen an einer verhältnismäßig geringfügigen Sache scheitert, die mit dem Sport gar nichts zu tun hat; der KANTische überraschend auftretende Gegensatz bei geringfügigem Schaden ist hier am Werk, wodurch die Lächerlichkeit bewirkt wird. Was sich vor allem hier auch im Rahmen des Sports abzeichnet, ist das Bild des ungeschickten Unglücksraben, des sich leichtfertig in eine schwierige oder peinliche Situation Hineinmanövrierenden, ein Bild, das Holden fast durchweg im Roman bestätigt. Es ist der Typ des Losers, der hier am Romananfang vorskizziert wird, und diese heute so landläufige Bezeichung hat ihren Ursprung im Sport.
Für Holden muss sich in dieser Episode eine Erfahrung bewahrheiten, die er während seiner Internatszeit gemacht hat: "Diese Sporthunde [sport bastards] halten immer zusammen." Später wird er erwähnen, dass der Sportlehrer der Schule seinen, Holdens, Intimfeind, einem eingebildeten athletischen sunny boy, sein Auto geliehen hat, damit dieser seine Mondscheinallee-Fahrten durchführen konnte; auf einer solchen Fahrt, so argwöhnt Holden, hat Stradlater (>Strad laid her < in der Namensdeutung mancher Spezialisten), der Liebling des Sportlehrers, auch Jane Galagher verführt. Als Holden sich gegen Stradlater auflehnt, dem er dazu noch sein Jackett für den Trip geliehen hatte, wird er von diesem blutig geschlagen. Der Leser des Romans wird in der Enttäuschung durch Jane und die Demütigung durch die Sportkanone eine der nachhaltigsten Verwundungen erkennen, die der Junge erleidet.
Am Rande sei vermerkt, dass Holden den entstandenen finanziellen Schaden, der durch ihn entstanden ist, nicht erwähnt. Ganz im Gegensatz zu Dom Molise scheint die monetäre Seite des Lebens - und vor allem die des Sports - für ihn nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Die seelisch befreiende Wirkung des reinen Spiels
Die dritte Stelle des Romananfangs, an der der Sport thematisiert wird, ist - man zögert ein wenig, sie so zu nennen - so schön, dass sie im Wortlaut wiedergegeben werden sollte.
"Glücklicherweise fiel mir plötzlich etwas ein, das mir den Abschied richtig bewußt machte. Ich erinnerte mich daran, dass ich im Oktober mit Robert Tichener und Paul Campbell vor dem Schulgebäude mit einem Fußball gespielt hatte. Sie waren beide nette Burschen, besonders Tichener. Es war kurz vor dem Abendessen und schon ziemlich dunkel, aber wir spielten immer weiter. Es wurde dunkler und dunkler, und wir konnten den Ball schon kaum mehr sehen, aber aufhören wollten wir doch nicht. Schließlich mußten wir aufhören. Der Biologielehrer, Mr. Zambesi, steckte den Kopf aus einem Fenster und rief, wir sollten in unsere Zimmer verschwinden und uns zum Essen herrichten. Wenn ich mich an solches Zeug erinnere, kann ich mich über den Abschied freuen - meistens jedenfalls."
Aus der saloppen, untertreibenden Sprache des Jugendlichen rückübersetzt, heißt das: an diesem Abend - der im übrigen an die von Buddy Glass mit Murmelspielen verbrachten Abende erinnert, in die Bruder Seymour "hereinweht" - gab es so etwas wie ein Glücksgefühl, das der Sport vermittelte, einen Einklang von Körper und Geist; mit dem Gefühl freundschaftlicher Verbundenheit ist die befreiende Wirkung der körperlichen Bewegung und Geschicklichkeit verwoben, es stellt sich die Empfindung des Befreitseins vom Zwang der Schule und der Alltagssorgen ein, eine Hingegebenheit an die Stimmung. Nicht zufällig ist der Abend Träger dieser Stimmung. "Nett", "nice", wie Holden die beiden Mitspieler nennt, ist eine Bezeichnung, die von Holden nicht oft an Mitmenschen vergeben wird, sie ist das Gegenteil von "phoney", das die heuchlerisch-unaufrichtig-anpasserische Haltung benennt. Wie viele solcher Glücksmomente wie dieses zwang-lose Spiel mit den beiden netten Mitschülern gibt es im Roman? Sie sind sehr selten. Die Erinnerung an gewisse mit Jane verbrachte Stunden, an gemeinsame Unternehmungen mit dem (inzwischen verstorbenen) Bruder Allie und der kleinen Schwester Phoebe, das Zusammensein mit Phoebe in deren Schlafzimmer, die Wahrnahme der Erscheinung Phoebes in ihrem blauen Mantel auf dem Karussell am Schluss des Romans, die einer kleinen Apotheose gleichkommt. Die kurze Zeit des Herumspielens mit dem Ball im abendlichen Schulhof gehört zu diesen Szenen, weil der Sport hier frei von einer Zielsetzung, von Regeln und Erfolgszwang betrieben wird. Das Hereinrufen der Jungen durch den Lehrer beendet die glückliche Stimmung abrupt, eine von außen auferlegte Ordnung unterbindet die innere Harmonie. Und Holdens abschließender Kommentar ist so offen wie der Romanschluss.
"Sobald ich dies (nämlich das Gefühl, sich über einen Abschied freuen zu können, d.Vf.) erreicht hatte, drehte ich mich um und rannte den Hügel hinunter, in Richtung auf Spencers Haus zu." Was meint Holden mit "solches Zeug", an das er sich erinnert? Das Glücksgefühl, das ihm den Abschied leicht macht oder die Unterbrechung durch den Vertreter einer verhassten Ordnung? Hier endet der eigentliche Anfang des Romans, der nun in die Abfolge der Begebenheiten eintritt, die dem Hinauswurf aus der Schule folgen.
Bei Mr. Spencer, einem Lehrer, den Holden ganz gut leiden kann,
taucht noch einmal der Sport auf: Mr. Spencer hatte den Jungen in seine Wohnung geladen,
um ihm ein paar Lehren mit auf den Weg zu geben - tatsächlich mischt er jedoch auch
etlichen Tadel in pädagogisch für heutige Begriffe nicht gerade geschickter Weise ein.
Er befragt Holden auch nach seiner Unterredung mit dem Schulleiter.
Dieser hatte das Leben mit einem Spiel verglichen, und Mr. Spencer pflichtet dieser
Meinung bei; das Leben sein ein Spiel, das bestimmte Regeln hat.
Holden akzentuiert den Vergleich um, indem er bei sich denkt: "Ein Spiel, verdammt!
Feines Spiel. Wenn man auf der Seite spielt, wo die großén Kanonen sind, dann ist es
ein Spiel - das will ich zugeben.
Aber wenn man auf die andere Seite gerät, wo keine Kanonen sind, was soll daran noch
Spiel sein? Nichts. Kein Spiel mehr."
Holden hat drei wesentliche Merkmale des Sportbetriebs erkannt: die Massenbegeisterung,
die gefährlich werden kann; die Kameraderie der Sportler, die ebenfalls gefährlich
werden kann - und die seelisch befreiende Wirkung des reinen Spiels.
Von einem Dom Molise wäre eine solche Wahrheit nicht zu erwarten;
aber nicht, dass er zu einer Kritik an der Gesellschaft durch den Sport nicht fähig
gewesen wäre, sondern weil sie ihm nichts gebracht hätte: vom Sport hat er alles zu
erwarten, er ist seine einzige Chance, in der Gesellschaft voranzukommen.
Dom Molise blickt auf einen Aufbruch zurück, der von Entschlossenheit getragen ist.
Holden Caulfield nimmt Abschied, der von Bitterkeit und Skepsis gekennzeichnet ist,
aus seinen zutreffenden Beobachtungen wird sich jedoch ein eigenständiges
Urteilsvermögen entwickeln.
So hat der Vergleich der Romananfänge die Gesichter des Sports,
aufgefächert in den Ansichten zweier sehr unterschiedlicher Jugendlicher, gezeigt.
Man könnte auch sagen, er hat gezeigt, was wir immer schon wussten: Sport ist nur
selten Befreiung vom gesellschaftlichen Rollenzwang, er ist das Abbild der Gesellschaft,
die ihn betreibt.
Wie sagt doch Dom Molise von seiner - ungeplanten - ersten Begegnung mit der ersten
großen Liebe seines Lebens, Dorothy Parish? "Ich m u s s gut sein."
2007/08
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