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Winters Panoptikum

Dr. Christian Schwarz
Koffer im Roggen
Über ein vielleicht nicht so blindes Motiv, Geld und die Kategorie der Unentschiedenheit in SALINGERs Roman

Es ist eben überhaupt schwierig, sein Zimmer mit jemandem zu teilen, der schlechte Koffer hat.
(Holden Caulfield)

He writes of how much he wished, when his 'New Yorker' friends were there, that he could feel more sense of friendship and connection.
(Joyce MAYNARD, At Home in the World. A memoir. p.131))

So wenig ist es gar nicht, was man über den seit 1965 nicht mehr publizierenden Autor Jerome David SALINGER weiß. Vor zwei Jahrzehnten war das noch anders. Inzwischen haben die literaturdetektivischen Anstrengungen des britischen Lyrikers Ian HAMILTON, die der Biograph ALEXANDER nach dem von SALINGER bewirkten Einstampfen des HAMILTON-Buches aufgreift, sowie die autobiographischen Bekenntnisse von Joyce MAYNARD, die 18jährig den Autor kennen und lieben lernte, dazu beigetragen, dass wir vom Verfasser des die Nachkriegsgeneration der ganzen Welt bewegenden Schülerromans "Catcher in the Rye" jetzt soviel wissen wie über einen nicht-schreibenden Zeitgenossen aus unserer näheren Umgebung. Wenn jemand, so wie es SALINGER tut, Informationen über seine Person verweigert, dann werden naturgemäß an die Öffentlichkeit gelangende Details, die ansonsten als banal angesehen würden, hoch gehandelt.

SALINGER ordert feine Lederwaren

So erfahren wir zum Beispiel, dass SALINGER im Jahr 1980 zwei von einer dänischen Firma hergestellte Schultaschen geordert hat, auf die er durch eine Anzeige im "New Yorker" (in dem er bekanntlich die erfolgreichsten seiner Kurzgeschichten veröffentlicht hatte) aufmerksam geworden war. Wer das liest, wird sich möglicherweise an die Stelle im "Catcher" erinnert fühlen, an der die Hauptfigur Holden Caulfield über seine Vorliebe für gediegene Markenprodukte der Koffer-Produktion spricht. Man verfügt also, wenn man so will, über eine Art Guckrohr, das den jugendlichen Ich-Erzähler des Romans mit seinem Schöpfer verbindet und zwar über dessen Gusto am feinen Lederbehältnis.

Die armseligen Koffer der Nonnen

Kapitel 15, in dem Holden Caulfield den beiden Nonnen mit ihren billigaussehenden Koffern zur Hand geht, wird meist unter dem Gesichtspunkt der Begegnung mit Menschen betrachtet, denen der Junge die Eigenschaft "nice" zubilligt, denen er in seinem dichotomischen Bild von der Gesellschaft die überwältigende Mehrheit der "phoneys" gegenüberstellt.

Kapitel 15 ist aber auch dasjenige, indem es am ausgesprochensten von allen Abschitten des Romans um Geld geht (wenn man von dem Streit um das Honorar für die junge Prostituierte Sunny im K.14 absieht). Am Anfang des Kapitels steht ein Telefonat mit seiner Bekannten Sally Hayes, die man als jugendliche Vertreterin der leisure class sehen und damit dem Themenkreis Geld zurechnen kann, am Ende stehen die Sätzes "Dieses verfluchte Geld. Es führt immer dazu, dass man deprimiert wird." Dazwischen sind sowohl die reflektierenden wie die handlungsbezogenen Passagen vom Thema Geld bestimmt. Holden bekennt seine Nachlässigkeit im Umgang mit Geld, spricht über die finanziellen Verhältnisse seines Vaters, der als Syndikus und Investor im Broadway-Theater als Angehöriger der kapitalkräftigen oberen Mittelschicht ausgewiesen wird; die Vorliebe für teure und die Abneigung gegen billige Koffer bildet den Ausgangspunkt für eine - erinnerte - Binnenepisode (mit Dick Slagle, dem Schulkameraden), in der es um den durch Besitz erworbenen Sozialstatus geht. Die Nonnen möchte Holden mit einer Geldspende erfreuen, das billige Essen der Nonnen wird erwähnt (H. hat die Absicht, es zu bezahlen); ferner spielen "Privatschulen", die Holden besucht hat, und die feine Sportart Tennis eine Rolle, in der zweiten erinnerten Episode (Louis Gorman) wo die Sozialfunktion der Religion schließlich indirekt mit der es Geldes verbunden wird. Eingebettet in diese Thematik ist derjenige Teil im Gespräch mit den Nonnen, der sich um Holdens Schullektüre, besonders von "Romeo und Julia", dreht, wobei der Junge seine Präferenz für Mercutio gegenüber den anderen Hauptfiguren kundtut, eine Präferenz für den Außenseiter also; Begründung: "Er war klug und unterhaltend und so."

Dass es die Absicht des Autors ist, mit der Vorliebe für edle Koffer den sozialen Status der Hauptfigur des Romans sinnfällig zu machen, ist bereits bei oberflächlicher Betrachtung der Textstelle klar, besonders da dies im direkten Anschluss an die Skizzierung der finanziellen Potenz des Vaters geschieht. Möglicherweise stellt sich Holden für viele Leser an dieser Stelle als kleiner verwöhnter Snob dar, der nicht bemerkt, dass er sich so verhält wie die meisten der von ihm kritisch oder verächtlich bewerteten Mitmenschen, seien es Schüler, seien es Erwachsene.

Bei genauerem Hinsehen ergibt sich aber die Frage, warum Holden, obwohl er die Sache für "natürlich ... nicht wichtig" hält, "jemanden wirklich fast zu hassen anfangen" kann, wenn er billige Koffer sieht, "so schrecklich das auch klingt." Was ist es eigentlich genau, was Holden hasst? Es könnte die Tatsache sein, dass jemand, der ihm sympathisch ist, dadurch seinen schlechten Geschmack oder seine Gleichgültigkeit gegenüber dem schönen Aussehen notwendiger Dinge verrät, dass er billige Behältnisse dieser Art kauft oder verwendet; es scheint, als könne dadurch für Holden auch die Möglichkeit eines guten Kontakts mit der betreffenden Person verringert werden. Dann würde mangelnder ästhetischer Sinn höher bewertet als Gesprächsbereitschaft. Dann wäre der Besitz schöner Koffer eben doch eine wichtige, entscheidende Angelegenheit.

Caulfields Koffer, Slagles Koffer: Das Trennende

Andererseits kann es sich bei diesem "Hassen" auch um eine , vielleicht als unbestimmbar von Holden erlebte Wut über das Trennende handeln, das vom sozialen Status ausgeht. Der vergleichende Hinweis auf die Koffer gegen Schluss des Kapitels im Zusammenhang mit der bei der Bekanntschaft mit dem Mitschüler Louis Gorman wie bei der Begegnung mit den beiden Nonnen auftretenden Frage nach der Rolle der Konfessionszugehörigkeit im Zusammenleben von Menschen, die Auswirkung auf die Qualität eines Gesprächs, scheint in diese Richtung zu weisen. Zunächst benutzt der Erzähler das Motiv des Koffers dazu, die Erscheinung "Sozialneid" abzubilden, was - im Umgang mit dem Zimmergenossen Dick Slagle - gerade deshalb eine für Holden neue, wesentliche Sozialerfahrung darstellt, weil er es sich nicht "individuell" erklären kann ("...und komischerweise fehlte er mir eigentlich, nachdem ich umgezogen war ... Es würde mich nicht wundern, wenn auch er mich vermisst hätte. ... Es ist eben überhaupt schwierig, das Zimmer mit jemandem zu teilen, der schlechte Koffer hat - wenn man wirklich teure Koffer hat, und der andere billige, meine ich.") Vorausgegangen ist ein recht komplizierter und schließlich scheiternder Kommunikationsversuch mit dem Ziel, die Koffer-Frage zu regeln. Slagle hatte seine billigen Koffer unter dem Bett statt auf dem Koffergestell platziert, was Holden "wahnsinnig" "deprimierte", so dass er seine Koffer am liebsten aus dem Fenster geworfen oder mit Slagle getauscht hätte. Der anschließende von Holden unternommene Lösungsversuch, der darin bestand, seine Koffer ebenfalls unter das Bett zu stellen, hat zur Folge, dass Stagle die seinen auf das Koffergestell setzt. "Erst nach einiger Zeit begriff ich, dass er das tat, damit die Leute dächten, meine Koffer gehörten ihm." Zugleich macht Holden zum ersten Mal Bekanntschaft mit einem Stichwort des sozialökonomischen Diskurses und erfährt dessen Instrumentalisierung zur Kaschierung von Sozialneid. Slagle bezeichnet nämlich das Verfügen über teure und "zu neue" Koffer als "bourgeois" (in Heinrich BÖLLs Übersetzung, in der Eike SCHÖNFELDs "bürgerlich"); alles, was Holden besitzt, ist für Slagle "bourgeois", bis hin zum Füllfederhalter, auch wenn er sich diesen oft ausleiht. Holden bemerkt durchaus das neckende Element im Verhalten Slagles, dem er auch Humor bescheinigt, muss aber dann doch erkennen, dass "es ihm ernst wurde". Beide verlangen ein anderes Zimmer und trennen sich. Sicherlich ist Holdens Anmerkung, dass er deshalb "mit einem so blöden Esel wie Stradlater im gleichen Zimmer wohnte", weil wenigstens dessen Koffer so gut wie seine waren, ironisch zu verstehen; das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Holden ganz nahe an die Ursache des Unterschieds gekommen ist, den zwischen Menschen zu machen er sich gezwungen sieht. Er entzweit sich mit Slagle, weil dieser Besitz als Kriterium für die Zuordnung von Mitmenschen macht, obwohl er die für Holden so wichtigen Eigenschaften von Intelligenz und Humor in die Beziehung einbringt und damit eigentlich die Voraussetzungen dafür hat, von Holden als "nice" anerkannt zu werden. Die Bezeichnung "phoney" gebraucht Holden für Slagle bemerkenswerterweise nicht, er nennt ihn nur "sonderbar". Dass Slagle die Welt, ähnlich wie er selbst, in zwei Kategorien von Menschen aufteilt, scheint Holden nicht aufzufallen. Er wendet sich von dem Zimmergenossen ab, weil er fühlt, dass er durch ihn in seiner Freiheit beschnitten wird. Das unbestimmte Gefühl, das er hat, ist ein schmerzliches, eine Erklärung findet er selbst nicht; dass der Rückzug auf das Ästhetische der Koffer ihm nur durch den Besitz, durch Wohlstand, möglich ist, scheint durch die Bemerkung über Stradlater als vage Einsicht, vielleicht in der Form bereits als zynisch empfundener Lebenserfahrung, hindurchzuschimmern. Die Freiheit, die er sich gesichert hat, ist diejenige, derer sich das "Bürgerliche" durch die Abwehr des "Ideologischen" versichern will - dies wird letztlich jedoch nur durch die Psychologie des Geldes ersetzt.

Der Autor lässt seinem Holden die Wut über das Trennende, seine Traurigkeit über das Scheitern der Verständigung. Er lässt ihm aber keine Möglichkeit zu einem Gespräch mit dem Zimmergenossen, das zu einer Erklärung des Trennenden führen könnte. Der Erzähler lässt Holden die schönen Koffer. Der wird sie nicht aus dem Fenster werfen. Holden gibt den Schulfreund auf, nicht aber die Koffer. Dabei weiß Holden, dass seine teuren Gepäckstücke mit den Einkommensverhältnissen seines Vaters zusammenhängen - er scheint diese jedoch als Familieneigenschaft aufzufassen. Täuscht man sich, wenn man annimmt, dass Holden eigentlich doch noch mehr weiß? Spricht nicht im einleitenden Abschnitt des Romans davon, dass sich sein Bruder D.B. in Hollywood durch das Abfassen von Filmscripts 'prostituiert'? Hat er ein Schlagwort nur 'gehört oder gelesen', wie er dies von Slagle vermutet? Im Wesentlichen wird in der Koffer-Episode ein Mangel an Vertrauen konstatiert, und damit macht sich ein Grundmisstrauen, das mit dem Besitz materieller Dinge oder von Geld verknüpft ist, deutlich. Das Trennende wird hingenommen, hinter der Traurigkeit verbirgt sich das Gebot der Vorsicht gegenüber dem anderen, die eherne Gesetzlichkeit des bürgerlichen Denkens als der Kehrseite von bürgerlicher Freiheit und Toleranz. Dabei erfolgt hier, wie so oft bei SALINGER, Gefühlsvertiefung - bestehen Luxus und Gefühl also nebeneinander oder durchdringen sie sich vielleicht sogar gegenseitig?

Der jugendliche Held: Zustände der Unentschiedenheit

Freilich handelt es sich bei dem Erzählten um Vorgänge in der Psyche eines Jugendlichen. Aber der Verdacht muss bestehen, dass dem Erzähler an jugendlichen Figuren gerade deshalb gelegen ist, weil sie ihm die Chance geben, Zustände der Unentschiedenheit darzustellen, die eben für die sich erst entfaltende Persönlichkeit charakteristisch sind. Dies wiederum ermöglicht es dem Autor, den Idiosynkrasien seiner Figur mehr Gewicht zu geben, sie gegenüber dem Gesellschaftlichen stärker hervortreten zu lassen. In dieser Darstellungsweise, durch die die Temperatur der Individualisierung um wesentliche Grade erhöht wird und die überdies für die oft dunkle Tönung des Erzählten sorgt, in der sich "Der Fänger im Roggen" von anderen Jugend-Romanen unterscheidet, erscheint SALINGER als tragischer Humorist, viel weniger als Realist - trotz seiner vielgerühmten Sicherheit im Umgang mit dem Jargon der Mittelschicht-Jugendlichen seiner Zeit. Von seinem Vorbild Ring LARDNER jedenfalls hat er nur stilistische Mittel und Mittelschicht-Sujets übernommen, nicht aber den "heiligen Zorn" (Georg LUKÁCS) des Satirikers, den man bei der Lektüre LARDNERs verspürt. Darin liegt ja die Signifikanz der "Koffer"-Szene im Hinblick auf die Figur der Unentschiedenheit: man hasst die Leute, die teure Koffer erwerben können, aber man liebt ihre Koffer. Philip ROTH mag auf diesen Widerspruch anspielen, wenn er über SALINGER sagt: "The only advice we seem to get from SALINGER is to be charming on the way to the loony bin." (Writing American Fiction, 1961 / 1975)

In der Figur der Unentschiedenheit geht wohl auch der Bruch auf, den der britische Kritiker Brian WAY 1965 in SALINGERs Roman beobachtet. WAY schreibt vor der heute verbreiteten Rezeption der Romanmonographie Peter FREESEs (Die Initiationsreise. Studien zum jugendlichen Helden im modernen amerikanischen Roman, mit einer exemplarischen Analyse von J. D. Salingers "The Catcher in the Rye."), in dessen Kielwasser "Der Fänger im Roggen" - eigentlich gattungsgeschichtlich ansetzend - als Initiationsreise interpretiert wird. Nach FREESE hat man sich auch daran gewöhnt, das den Roman durchziehende Geflecht von Verweisungen als sein Charakteristikum anzusehen. Beide Formkriterien bedingen natürlich einen Eindruck der Geschlossenheit, die durch den konsequenterweise als positiv (im Sinn der Verantwortungsfindung des Helden) empfundenen Schluss noch verstärkt wird. Brian WAYs Analyse ergibt dagegen ein Abfallen des dritten Romanteils gegenüber den beiden ersten. Diese stellten die einzige erfolgreiche Auseinandersetzung eines Romanautors mit der Phase des Heranwachsens dar ("dass nämlich der Jugendliche gerade die physische Fähigkeit zur sexuellen Erfahrung gewonnen hat, ohne gelernt zu haben, sie in die eigene Person oder in irgendeine beständige Beziehung zu den Forderungen der Gesellschaft zu integrieren") und handhabten die Möglichkeiten des Komischen meisterhaft "im Holden Ton mit seiner wohlwollend-spottenden selbstironischen Note". Der dritte Teil, der die Rückkehr des von seinen Experimenten entäuschten, zutiefst pessimistisch gewordenen Helden in das Reich der Phantasie behandelt, leide unter den falschen Vorstellungen des Autors von Kindheit im Sinn der "gängigen amerikanischen Gewohnheit, Geistesverwirrung mit Unschuld gleichzusetzen", der Ahnungslosigkeit hinsichtlich tatsächlicher psychischer Reaktionen von Jugendlichen, Sentimentalisierungen nach Art viktorianischer Romanciers, Verwendung von atavistischem Aberglauben und FREUDschen Symbolen. WAY konstatiert das Zusammenbrechen der künstlerischen Kontrolle, das Versagen des Autors bei der Anordnung seines Materials, den Verlust der Distanz des Autors zu seiner Hauptfigur, in der er selbst völlig aufzugehen scheint. Der Erfolg des Romans beim Leser, seine Überzeugungskraft, hängt, so schließt WAY, davon ab, ob der Leser SALINGERs Auffassung von Kindheit und Jugend teilt - und die ist, wie WAY dargelegt hat, falsch. Alles, was WAY moniert, lässt sich als Manifestation der "Unentschiedenheit" bezeichnen.

Die Diskussion könnte sich nun darum drehen, ob die offensichtlich aus einem strengen Realismus-Begriff bezogenen Forderungen WAYs einem Werk gerecht werden, das quasi im Vorgriff auf die Postmoderne die Figur der Unbestimmtheit / Unentschiedenheit zum Gestaltungsprinzip zu erheben scheint; oder darum, ob nicht ganz einfach der Kurzgeschichten-Autor J.D. SALINGER an den Anforderungen gescheitert ist, die ein Roman an seinen Verfasser stellt. Weiter schein indessen ein Vergleich zwischen der Kritik WAYs und den Anmerkungen zu führen, die Philip ROTH zu SALINGER (s.o.) macht. ROTH stellt fest, dass "in SALINGER, more than in most of his contamporaries, the figure of the writer has lately come to be placed directly in the reader's line of vision, so that there is a connection, finally, between the attitudes of the narrator as, say, brother to Seymour Glass ..." Obwohl sich diese Äußerung auf die Stories rund um die Familie Glass bezieht, so ist die Diagnose doch die gleiche, mit der WAY seine Kritik am "Fänger im Roggen", Teil 3, begründet. Offenbar vollzieht sich hier ein Prozess, der zur schließlichen Auflösung der Story in "reinen" Stil führt. Das bedeutet jedoch, dass die Verantwortung für die Entscheidung über die Entscheidungen der Protagonisten sich verflüchtigt; es liegt auf der Hand, dass die Figur der Unentschiedenheit vom Erzählten nicht nur beherbergt wird, sondern das Erzählte dominiert: SALINGERs letzte bedeutende (veröffentlichte) Prosa, "Seymour. An Introduction" zeigt diese Stufe an. Die, wenn man so will, doppelte Bedeutung des Wortes "Introduction", also neben "Vorstellung" auch "Einführung" scheint auf einen unbestimmt bleibenden Raum hinzudeuten, der vielleicht jenseits des Schreibens überhaupt liegt. Die Koffer sind geschlossen - oder geöffnet?

Die konservativen Erfinder der Figur "Antiheld" - sie sind zugleich die Herren der "offenen Schlüsse" - verwenden in ihren Interpretationen moderner Literatur mit Vorliebe den Begriff "Ambivalenz". Der Begriff Ambivalenz stammt aus der Psychoanalyse, wird von besagten Kritikern jedoch semantisch-strukturalistisch in Dienst genommen; was er beschreibt, wird letzlich als eine der Spätfolgen der "Umwertung aller Werte" durch NIETZSCHE gedeutet. Er liegt also außerhalb der humanistischen Ansätze des Projekts Moderne. Eine gesellschaftlich viel akzentuiertere Erklärung der "Unentschiedenheit" spricht der Romanautor Saul BELLOW aus (wie Philip ROTH Mitte der 60er Jahre, also ungefähr zu der Zeit, als SALINGER zu publizieren aufhörte): "But, on the whole, American novels are filled with complaints over the misfortunes of the sovereign Self." Man darf folgern: je schwächer das Selbst - hier des Literaten - , desto mehr neigt es dazu, seine Souveränität der Gesellschaft gegenüber aufzugeben und stattdessen sich mit den Elementen des von ihm literarisch Geschaffenen zu vermischen. Die literarische Figur seiner Schöpfung wird zum zweiten Selbst, das die Schwäche des Autors zurückspiegelt. "Seymour. An Introduction" wird zum Dialog mit dem Leser, der diesen Dialog als Dauer-Parlando empfinden muss, das vom Erhabenen zum Banalen, von angespannter Senisbilität zur lockeren Vertraulichkeit, vom Misstrauen gegen sich selbst zum Vertrauen gegenüber allen Dingen der Welt wechselt und wieder zurück. Das Gespräch mit dem Leser mag dem Leser bald als Selbstgespräch des Autors sich enthüllen, oder als Gespräch des Autors mit dem Wie-sich-der-Autor-sich-selbst-als-Leser-vorstellt-Leser. Die Grenzen des Selbst zerbröckeln. Oder aber: es handelt sich um ein Gespräch des Autors mit dem seinem Gehirn eingebauten Kontrolleur, im Sinn der neuen Gehirnforschung.

BELLOW glaubt die Ursachen für das von ihm Beobachtete zu kennen: "Perhaps the reason for this is the prosperity and relative security of the middle class from which most of writers come. In educating its writers it makes available to them the radical doctrines of all the ages, but these in their superabundance only cancel one another out. The middle-class community trains its writers also in passivity and resignation and in the double enjoyment of selfishness and good-will. They are taught that they can have it both ways. In fact they are taught to expect to enjoy everything that life can offer. They can live dangerously while managing somehow to remain safe. (...) They are both conservative and radical. (...) They are not taught to care genuinely for any man or any cause." (S.B., Some Notes on Recent American Fiction)

Dass BELLOWs Stimme den Campus von Berkeley jener Jahre erreicht hat, ist möglich - mittlerweile dürfte der damalige status quo wieder erreicht sein. Anzumerken ist, dass keiner der großen jüdisch-amerikanischen Romanautoren, weder Bernard MALAMUD noch Norman MAILER und Philip ROTH und Saul BELLOW selbst, der wohlhabenden oberen Mittelschicht entstammt, wohl aber Jerome D. SALINGER. Dieser sagt zu seiner jugendlichen Liebhaberin Joyce MAYNARD: "I can take society well enough, so long as I keep my rubber gloves on." (J.M., At Home in the World, 108)

Aus Saul BELLOWs Liste lässt sich das Angebot der entfesselten Märkte erahnen. Es geht bei aller Unentschiedenheit also doch wieder entschieden um das Geld. In seinem Buch "Strukturen des modernen Romans" hat der amerikanische Professor für deutsche Literatur in Princeton, Theodore ZIOLKOWSKI, ein Kapitel "Der Roman der Dreißigjährigen". Er beobachtet, dass eine überraschend große Auswahl moderner Romane Dreißigjährige als Helden hat (und dass einige ihrer Autoren um die Dreißig waren, als sie diese Romane verfassten). "... in jedem Fall endet die Krise des Dreißigjährigen mit einer bewußten Entscheidung, die seine künftige Einstellung zur Welt bestimmt." SALINGER lässt den intellektuellen Star der Glass-Familie mit dreißig Selbstmord begehen, bei der Publikation des "Fänger im Roggen" (1951) ist er selbst zweiunddreißig Jahre alt. Seine Entscheidung hat er wohl schon früher getroffen, und auch nach der Erschaffung der Figur Holden Caulfields ist er bei dieser Entscheidung geblieben: Gegenstand seiner Darstellung - und damit auch Form seiner Gesellschaftskritik - ist der junge Mensch, vom Kind bis zum Adoleszenten und der jungen Frau, des jungen Mannes. Die Einstellung dieser jungen Menschein ist mehr oder weniger immer dichotomisch, d.h. sie teilen die Welt in viele üble und wenige gute Leute ein, Holdens phoney und nice people. Am anderen Ende des Guckrohrs, das sich anhand der Koffer-Episode im "Catcher" konstruieren ließ, sehen wir die 18jährige Joyce MAYNARD, die des 53jährigen SALINGERs Ansprachen an sie zusammenfasst: "You are alone in the world. Nobody else is like you. No one will understand you." und kommentiert: "All he really wants in his life are a handful of people."

"Bourgoise Signale"? Ideologiefreie Sicht - auf dem Weg zu einer Psychologie des Geldes
Georg SIMMEL, RILKE, MARX

Um zu sehen, was das mit Geld zu tun hat, sollte man zunächst das Kernwort des Romans, "phoney" ("phony") etwas genauer betrachten - im Allgemeinen verharrt die kritische Lektüre des Textes ja bei dem Gegensatz von "nice" und "phoney" im Weltbild Holdens. Die 6. Ausgabe des Advanced Learner's Dictionary of Current English von 2000 umschreibt die Wortbedeutung wie folgt: "...(informal, disapproving) not real or true; false, and trying to deceive people ... a person who is not honest or sincere; a thing that is not real or true." Die vorausgegangene Ausgabe akzentuierte im Hinblick auf das Element der Täuschung, das für unseren Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit ist (auch wenn es beim Nomen nicht mehr ausdrücklich benannt wird) etwas anders: "...pretending to be something that one is not". Die erste Umschreibung bezieht sich in diesem Punkt mehr auf das Objekt einer Haltung oder Handlung, die zweite auf die Qualität der Eigenschaft. Jemand verdeckt oder verschiebt eine seiner Eigenschaften zugunsten einer anderen, vom Partner gewünschten, zur Darstellung des eigenen Image günstigen, und führt damit eine Täuschung für einen bestimmten Zweck durch. Im literarischen Kontext wird diese Art von Täuschung zum bestimmenden Charakterzug, der Typus des phoney ist geboren, d.h. er existiert auch im Plural, als phonies. Sein / Ihr Mangel an Charakter kann phänomenologisch wie moralisch gesehen werden; anders ausgedrückt: der Typ ist flach und blass oder unmoralisch. Diskutabel in gesellschaftlicher Hinsicht ist die Frage, ob dies letzendlich "under pressure" - um den Titel einer Interview-Sammlung von A. ALVAREZ aus den siebziger Jahren mit US-amerikanischen Autoren und Kritikern zu zitieren - der kapitalistischen Gesellschaft erfolgt oder andere Einflüsse dabei wirksam sind.

In einem solchen Zusammenhang und unter dem Zeichen "Charakter" wird eine Äußerung Georg SIMMELs in seiner "Philosophie des Geldes" zu berücksichtigen sein, weil sie einmal eine Homologie erkennbar werden lässt zwischen den Vorgängen, die das Wort "phoney" bezeichnet, zum anderen eine Verbindung zur Dominanz des Intellektuellen in den gesellschaftlich wichtigen zwischenmenschlichen Beziehungen darstellt.

George SIMMEL schreibt: "Der Intellekt, seinem reinen Begriff nach, ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des Mangels einer eigentlich erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht. Eben dies ist ersichtlich auch die Charakterlosigkeit des Geldes." SIMMEL schreibt mitten in der kapitalstrotzenden Gründerzeit; seine Sätze sind jedoch ersichtlich HEGELianisch. Vom Kopf auf die Füße gestellt erweisen sie die Nähe des Intellekts zu dem, was ihn anzieht, was seiner Rationalität am meisten entgegenkommt, was ihn sich verwirklichen lässt, was ihn sich operativ organisieren lässt. Der "reine Begriff" des Intellekts handelt nicht; der Intellekt handelt rational, je nachdem von welchem Ziel er angezogen (attrahiert) wird, d.h. welches Ziel am meisten seiner Rationalität entspricht, das bestimmt ihn. Im gegenwärtigen Stadium sich rasch entfaltender Produktionsmöglichkeiten (Investitionsmöglichkeiten) hat er seine bestimmte geschichtliche Möglichkeit. Indessen: im geschichtlich-politischen Raum erweist sich die Nähe von Intellekt bzw. Intellektualismus und Geld bzw. Geldverkehr als Korrumpierbarkeit; das Wort Charakterlosigkeit erhält dann die Bedeutung, vor der SIMMEL es bewahren wollte. Ein finanzieller Transfer mit dem Gegenstand, der Ware Nervengas oder Zyklon B ist eben kein intellektuell oder ökonomisch "reiner" Vorgang mehr. Die zweckbestimmt notwendige Eigenschaftslosigkeit des Geldes entspricht seiner Tendenz zur Abstraktion. Diese Abstraktheit bei größtmöglicher Universalität des Geldes ist gewissermaßen das Spiegelbild der rational ermittelbaren allgemein gültigen Wahrheit, der "ultima ratio". Veranschaulicht - im ökonomischen Sinn - wird das durch den MARXschen Satz: "Die gesellschaftliche Aktion aller Waren schließt ... eine bestimmte Ware aus, worin sie allseitig ihre Werke darstellen ... so wird sie - Geld." (MEW Bd. 23, Das Kapital Bd. 1, S. 107)
Holden Caulfield habe mit George SIMMEL nicht viel zu tun, wird man sagen, und das stimmt. Wozu die Betrachtung der Stelle aus der "Philosophie des Geldes" jedoch verhelfen kann, ist Einblick in die Tiefendimension des Wortes "phoney"; es kann wohl nicht mehr nur unter die jargongebundenen Stilmittel des Autors rubriziert werden. Die immer wieder, wenn auch bruchstückhaft sichtbar werdende Lebenseinstellung des Schriftstellers J.D. SALINGER beweist das Gleiche.

Nun geht es nicht in erster Linie darum zu ermitteln, bis zu welchem Grad, in welchem Ausmaß diese Lebenseinstellung zu Gesellschaftskritik im Werk des Autors führt. Zunächst ist Gegenstand des Interesses, wie kritische Perspektiven literarisiert, literarisch ausgeformt werden.

Um hierfür ein Beispiel aus dem in Rede stehenden Bereich kritischer Möglichkeiten zu geben, sei der von SALINGER hoch geschätzte Rainer Maria RILKE angeführt. Der zeitlebens in schwierigen finanziellen Verhältnissen steckende Dichter literarisiert diese auf zwei Ebenen: einmal überhöht er die materielle Notlage hymnisch "Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen" (Stundenbuch 17. April 1903, Paris), zum anderen lässt er einen Angehörigen der vornehmen Kreise, von denen er ständig materiell abhängig war, verarmen und macht ihn zum Autor seiner Prosaaufzeichnungen als Malte Laurids Brigge, der wiederum noch Ärmere, die verelendeten Bewohner von Paris, beobachtet. Dadurch erreicht er eine Balance zwischen den gesellschaftlichen Zuständen, vermittelt er Anklage mit Versöhnung.

Bei SALINGER liegen die Dinge ein wenig schwieriger, wohl einfach deshalb, weil er Wohlhabendheit kritisieren möchte, in der er aufgewachsen war und ihm Besitz immer zur Verfügung stand.

Man möchte meinen, dass die Stelle im Roman, wo die kritischen Möglichkeiten am besten genutzt greifbar erscheinen, die Begegnung Holdens mit der jugendlichen Prostituierten Sunny sei, besonders auch deshalb, weil diese ihrem Alter nach nicht weit vom Mittelschicht-Teenager entfernt ist. Am Schluss seines Berichts über die drei verrückten Tage in New York erinnert sich Holden zwar auch an Maurice, den Zuhälter, nicht aber an Sunny. Ein Kommentar, eine Reflexion dieser Szene erfolgt nicht, obwohl sie doch das erste Zusammentreffen des Jungen mit dem Geld in einer extrem anderen Form als der des von den Eltern zur Verfügung gestellten bedeutet und den Warencharakter des Persönlichen in der Verquickung von Körper und Geld auf eine Weise vermittelt, die auf den Schüler erschreckend oder zumindest verstörend wirken müsste. Sowohl Erwartungshaltung wie Reaktion scheinen jedoch bereits kapitalvermittelt bestimmt zu sein; die Szene sieht einen relativ gelassenen Holden am Anfang - auch die vielleicht gespielte coolness ändert an der Einstufung des Verhaltens nichts - und einen in die Scheinwelt des Films sich stürzenden Holden am Schluss. Das Fehlen kritischer Verarbeitung durch den sensiblen Jungen kann als Indiz für die mangelnde Bereitschaft des Autors zur Auseinandersetzung mit Erscheinungen sozialpsychologischer Art wie etwa Entfremdung gewertet werden; im Anschluss an Brian WAY, der das künstlerische Abfallen des Romans mit der Sunny-Szene beginnen lässt - diese allerdings als Versagenserfahrung im Sexuellen behandelt - könnte man von einem Beweis ex negativo für das Unvermögen des Verfassers zur Gesellschaftskritik sprechen. Zutreffender erscheint jedoch die Annahme, dass SALINGER, seiner individualisierenden Realismusvorstellung gemäß, Kritik auf andere, nicht kommentierende (oder symbolisierende), sondern verbildlichende Art und Weise literarisiert. Dies führt letztlich tiefer in die Persönlichkeitsschichten hinein und entspricht damit im Übrigen den universalisierenden Gedanken Georg SIMMELs mehr als das Vorgehen eines "harten" Realismus, der konkreter aber auch oberflächlicher wäre.

Kategorische Unentschiedenheit

Die meiner Ansicht nach für SALINGER charakteristische, bildhaft-anspielungshaft-verhüllende Formung der Kritik findet sich gleich zu Beginn des Romans, wo ja alle Akkorde des gesamten Werks angeschlagen werden, wie dies bei großen Erzähltexten fast durchweg der Fall ist. Am Schluss des ersten Abschnitts von Kapitel 1 stellt Holden seinen Bruder D.B. vor, der Schriftsteller ist. "Solange er (D.B. Anm. d.Vf.) noch bei uns zu Hause lebte, war er ein gewöhnlicher Schriftsteller. Er schrieb den fabelhaften Kurzgeschichtenband Der geheime Goldfisch, falls Sie je davon gehört haben. die beste Erzählung darin hieß Der geheime Goldfisch. Sie handelt von diesem kleinen Kerl, der niemandem seinen Goldfisch zeigen wollte, weil er ihn von seinem eigenen Taschengeld gekauft hatte. Das hat mich umgeschmissen. Jetzt ist D.B. in Hollywood und prostituiert sich. Wenn mir wirklich etwas verhaßt ist, dann sind es Filme. (...)"
Die Ingredienzien der Mini-Story innerhalb der Geschichte des Bruders, der im übrigen, seit er in Hollywood Erfolg hatte, Besitzer eines Jaguar-Wagens ist, innerhalb der beginnenden 3-Tage-Geschichte Holdens: Ein kleiner Junge, (Taschen-) Geld, ein Goldfisch, der von seinem Besitzer nicht hergezeigt wird, eine überraschende Kausalbeziehung. Im Umfeld, im Kontext: der "gewöhnliche" Schriftsteller D.B. im Gegensatz zum "jetzigen" Hollywood-Autor, der sich "prostituiert". Der Eindruck: ein scheinbar absurdes, unverständliches Verhalten, das den Romanhelden "umschmeißt". Die Hauptfigur der Mini-Story ist ein Kind. Dessen "Unschuld", d.h. dessen Außerhalb-der-Erwachsenenwelt-stehen, scheint damit gegeben zu sein. Andererseits scheint der Junge von der Bedeutung des Gelderwerbs zu wissen, denn er zeigt niemandem seinen Goldfisch, weil er vom Taschengeld gekauft wurde. Ist er besonders besitzbewusst, so dass er anderen nicht einmal den Anblick des Fisches gönnt? Schämt er sich dessen, dass er das Geld (noch) nicht selbst verdient hat - oder deshalb, weil ihm der Fisch nicht geschenkt wurde? In diesem Zusammenhang taucht der Gedanke der persönlichen Beziehung, der Zuneigung, der Liebe auf, ein Gedanke, der durch das Geheimhalten, das Verstecken des Fisches noch an Wahrscheinlichkeit gewinnt. Übersetzt man "his own money" nicht mit "Taschengeld" (wie es Heinrich und Annemarie Böll tun), so könnte die Mini-Story fast als Parabel zu SALINGERs Gefühlen und seinem entsprechenden Verhalten gegenüber den von ihm geschaffenen Figuren zu lesen sein: er erträgt den Gedanken nicht, dass sie mit Geld in Zusammenhang stehen, dass er mit ihnen Geld verdient hat. Die Betonung des Kaufaktes in Verbindung mit dem Verstecken des Liebesobjektes bildet den merkwürdingen Kern der Mini-Geschichte. Diese Verbindung bleibt letztlich ungeklärt. Sie erinnert dadurch an den Charakter des jüdischen Witzes. Ist es diese Beziehung, die Holden "umschmeisst"? Der Kontext, in dem das Wort "Prostitution" fällt (man ist geneigt zu glauben, dass Holden diesen Begriff irgendwo, so wie Dick Slagle "burgeois", aufgeschnappt hat), verweist doch wohl auf eine negative Konnotation von Geld und Zuneigung, die sich, und damit wird die Problematik von Holdens Verhältnis zu einer Familie indirekt beleuchtet, auch in dem Kontrast zwischen Früher und Jetzt zum Ausdruck bringt, in dem Holden seinen Bruder sieht. Die Dichte des Verweisungsgeflechts von Geld, Gelderwerb, persönlicher Beziehung und Scham (die das Verstecken bedingt) ist das Merkmal der Darstellungsweise SALINGERs. Eine genaue Untersuchung des Motivs des Verbergens im Werk des Autors in Verbindung mit der von ihm offenbar, wenn man das KAFKA-Motto zu "Seymour. An Introduction" bedenkt, als Problem empfundenen "unmöglichen Annäherung" an die geliebten geschaffenen Figuren würde der erzählerischen Figur der "Unentschiedenheit" eine neue Dimension hinzufügen. Doch zuallernächst ist zu beachten, dass sich SALINGER durch die Wahl eines Kindes wiederum die Möglichkeit verschafft, die Dichotomie des kindlichen Weltbilds (so wie es in seiner Vorstellung besteht) beizubehalten, die Kritik am kapitalistischen System nicht deutlicher ausführen zu müssen - und schließlich: den sexuell-erotischen Aspekt dieser Kritik nur anzudeuten.

Bildnis einer schlafenden Schönen mit Koffern: Seymours Hotelzimmer

Koffer stehen aber nicht nur in Internatsräumen, sondern auch in Hotelschlafzimmern. Luxuriöse Lederbaggage ist zwischen Seymour und seiner schlafenden Frau aufgebaut, als sich Seymour die tödliche Kugel gibt.
An der ersten Geschichte der "Nine Stories", "A Perfect Day for Bananafish", ist so viel Symbolsuche betrieben worden, dass man nicht glauben mag, dass dabei die Koffer in der Schlussszene übersehen wurden.

Ein Zugriff auf das Arsenal an Symbolen der Tiefenpsychologie legt sich tatsächlich nahe, wenn man das Gegenüber von zwei Partnern einer brüchigen Beziehung vor sich sieht. Auf dem einen Hotelbett liegt der im Schlaf ausgestreckte Körper einer hübschen jungen Frau, auf dem anderen sitzt der junge Mann, der seine Smith & Wesson hervorholt, um sich, einem für den Leser völlig unertwarteten Entschluss folgend, selbst zu töten. Die Szene zeigt zwei stumme Partner. Die ahnungslos-gesunde Müdigkeit der Frau und die Entschlossenheit des Mannes, von dem man nicht weiß, ob für ihn der Moment des Zusammenbruchs einer Welt oder der visionäre Augenblick der Vereinigung aller Gegensätze dieser Welt gekommen ist: diese Polarität soll unergründlich bleiben - den Drang, sie zu erklären, wird der Leser kaum unterdrücken können. Die Ursachensuche wird an der Symbolik der Dingwelt dieser Szene nicht vorbei gehen können, da sie einen Teil der Atmosphäre bildet, in der sich das Drama vollzieht.

Sigmund FREUD hat sich für seine "Traumdeutung" der Liste bedient, die Wilhelm STEKEL in "Die Sprache des Traums" zusammengestellt hatte. Nach STEKEL / FREUD symbolisieren alle Arten von Gepäckstücken die menschlichen (männlichen wie weiblichen) Genitalien, vor allem die eigenen.

Wer SALINGERs Zurückhaltung bei der Darstellung von Erotica kennt, andererseits aber auch seine Vorliebe für Verbildlichung seelischer Vorgänge, wird geneigt sein, eine solche symbolische Deutung zu akzeptieren, und zwar besonders deshalb, weil im Verlauf der Kurzgeschichte immer wieder, besonders von Seiten der Schwiegermutter, Zweifel der normalen Geistesverfassung Seymours geäußert werden. Nicht nur die Schwiegermutter, auch Warren FRENCH hat solche Zweifel. Dass zu der auf diese Weise eingeforderten Normalität auch der sexuelle Bereich gehört, kann man als sicher annehmen. Es wird vorstellbar, dass für den übersensiblen, auf die kindliche Reinheit konzentrierten, von der Partnerin durch ihr Desinteresse an Literatur enttäuschten Seymour solche Forderungen die Form einer Bedrohung annehmen, die in den gigantisch vergrößerten Geschlechtsteilen bildhaft wird. Dass damit auch das angebliche eigene Versagen vergrößert abgebildet sein könnte, wäre naheliegend. Die kalte Glattheit des Koffermaterials könnte auf die Oberflächlichkeit, die abweisende Arroganz der Partnerin bezogen werden.

An diese Wirkung wäre anzuknüpfen, wenn man - sollte eine symbolische, über ihre Wohlstand wiedergebende Bedeutung hinausgehende Funktion überhaupt angenommen werden - eine weniger tiefenpsychologische Deutung vornehmen will. Vorzuschlagen wäre eine dreifache Funktion: die des Trennenden, die der Reise und die des Verbergens. Die Masse des Materials trennt das Paar räumlich so, wie es sich missversteht. Der Vorname der jungverheirateten Mrs. Glass jr. ist nicht zufällig Muriel; der Name stammt vom irischen muir + geal (helles Meer) her. Die Reise, der Eindruck des Vorläufigen, des Aufbruchs wird konventionell mit Gepäckstücken verbunden. Damit wäre hier auch das Unvollständige, Brüchige der Partnerschaft zwischen den beiden jungen Menschen verknüpft, ja auch deren Scheitern und der Abschied Seymours für immer. Das Doppelmotiv des Verborgenseins und des Verbergens, das sich immer wieder als geradezu konstitutiv für SALINGERs Handhabung der Story bis in den Stil hinein erweist, wird man hier in den ausgesprochenen wie unausgesprochenen Problemen erkennen, die ungelöst bleiben und vielleicht unlösbar, "abgeschlossen" im doppelten Wortsinn sind.

J.D.S., Perfectionist

Und am anderen Ende des Guckrohrs? Da sehen wir ihn sitzen in seinem Arbeitszimmer, "lean", "well-groomed" wie stets, umgeben von Weltliteratur, New Yorker-Nummern, homöopathischen und Gartenbüchern, über die Bestellliste einer dänischen Firma gebeugt, den Meister der Worte, von dem Norman MAILER gesagt hat, dass noch nie in der amerikanischen Literatur so viel stilistisches Talent so nutzlos verschwendet wurde., er ordert handgemachte Schultaschen aus Leder. Perfektion hat er immer geschätzt, perfekte Kurzgeschichtenarbeit, seit er, am Ursinus College als etwas später Student Wochenende um Wochenende in einem angemieteten Zimmer mit Papier und Schreibmaschine verbrachte; seit er mit der perfekt aussehenden Oona O'NEILL (die er allerdings später "queen of phoneys" genannt hat, so wie Sally Hayes im Roman) bestimmt das perfekteste Debutantenpaar bildete, das New York gesehen hatte; von knapp einem halben Hundert Short Stories hat er nur neun plus fünf für den Druck in Buchform zugelassen, wo gab's denn sonst so etwas? Er liebt das Handwerk, Jeep vor D-Day wasserdicht, er blieb der leidenschaftliche Handwerker, der jeden Tag schreiben muss, auch wenn er nichts veröffentlicht. Er weiß, dass die Kunst des Verbergens mit der Kunst des Andeutens verknüpft ist, in der er der Champion ist, der Generationen von Literaturscholaren Rätsel aufgibt. Auch die Kinder im Roggenfeld spielen ja sicherlich Verstecken, und edle Koffer sind aus der Haut junger Rinder gemacht, gegen menschliche, behaarte Haut hat J.D.S. Holden eine starke Aversion. Was ist in den Koffern, die da im Roggen stehen abgestellt sind? Manuskripte vielleicht. Oder sie sind leer, leer wie der hohle Baum, das Zen-Symbol für das - auch von Entscheidungen - befreite Ich.

Künzell, 30.05.2004

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