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Winters Panoptikum

Blitze im Dunkeln.
Eine fragmentarische Analyse zu Dea Lohers Theaterstück Diebe

01. ..... Blitze 1 02. ..... Destillat und Kompott 03. ..... Offenen Texten gerecht werden 04. ..... Beziehungen 05. ..... Blitze 2 06. ..... Sprechen lernen 1 07. ..... Sprachskepsis 08. ..... Am Rand der Städte 09. ..... Episches Theater und Postdramatisches Theater 10. ..... Unterstellungen 11. ..... Diebe 12. ..... Stehaufmännchen 13. ..... Rostiger Anker 14. ..... Josef und Finn 15. ..... Sich selbst verlieren 16. ..... Lücke 17. ..... Sprechen lernen 2 18. ..... Blitze 3 Literaturverzeichnis Anhang: Szenenanalyse Dea Loher Diebe 01. Blitze 1

„Linda: Na, Gewitter war. – Plötzlich. – Mitten in der Nacht. – Starker Wind. Ich bin vom Wind aufgewacht, nicht vom Donner. […] Die Sachen flogen durch die Luft, wurden in den Fluss gewirbelt, das Wasser war dunkel. Ich konnte nichts sehen. – Nur wenn es blitzte, gab es kurze helle Ausschnitte. – Ich bin vom Wind aufgewacht, es war Nacht, ich verstand nichts.“ (1)

Die Figuren in Dea Lohers Diebe wirken oft so, als seien sie gerade erst aufgewacht. Das Bewusstsein ist schon da, doch die Zusammenhänge sind nocht nicht geordnet. Man kann reden, endlos erzählen von dem wirren Traum, den man gerade hatte, doch die Orientierung fehlt noch. Man kann nicht klar sehen – außer in den kurzen Augenblicken des Blitzes, da ist alles schlagartig erhellt, nur um sofort wieder in völliger Dunkelheit zu verschwinden.

02. Destillat und Kompott

Volker Klotz bringt die Unterscheidung zwischen der geschlossenen und der offenen Form des Dramas auf die Formel, das geschlossene Drama präsentiere den „Ausschnitt als Ganzes“, das offene Drama hingegen das „Ganze in Ausschnitten.“ (2)

Das geschlossene Drama versuche, durch größtmögliche Konzentration in Sachen Handlung, Zeit, Raum, Personen, Komposition und Sprache auf ein zentrales Thema eine „geistige Totalität“ (3) zu vermitteln, wie sie Aristoteles und Hegel propagieren. Das geschlossene Drama erzeugt also ein möglichst reines Destillat der Realität. Es versucht, der Realität gerecht zu werden, indem es sie auf das Notwenigste reduziert und so deren Zusammensetzung klarer herausarbeitet und sichtbar werden lässt.

Das offene Drama hingegen setzt laut Klotz in Bezug auf Handlung, Zeit, Raum, Personen, Komposition und Sprache auf Vielheit und Unvollständigkeit, um eine „empirische Totalität“ (4) zu vermitteln. Das offene Drama erzeugt somit ein möglichst vielschichtiges 'Kompott' der Realität. Es will der Realität beikommen, indem es in einer Reihung in gewissem Maß autonomer, oft fragmentarischer Szenen – als pars pro toto – eine Ahnung für den Zustand der Welt zu erwecken sucht.

Doch um diese Ahnung zu erzeugen, darf das Nebeneinander von verschiedenen Elementen im offene Drama selbstverständlich nicht den Eindruck von Beliebigkeit erwecken. Gerade darin sieht Bernd Stegemann eine der großen Herausforderungen der offenen Form: „Die Kunst der Parataxis besteht darin, dieses Nebeneinander so zu gestalten, dass die Wirkung auf der Bedeutungsebene offen und auf der Gefühlsebene dennoch affizierend ist.“ (5)

Klotz erläutert in seiner Abhandlung eine Reihe von Werkzeugen, derer sich das offene Drama bedienen kann, um einem etwaigen 'Sog der Beliebigkeit' entgegenzuwirken. (6) Die wichtigsten dieser Gestaltungsstrategien nennt er: komplementäre Stränge, metaphorische Verklammerung, zentrales Ich, Kontrast und Variation, Integrationspunkt und Bedeutungsfazit – und nicht zuletzt verwendet er den etwas nebulösen Begriff „verborgene Zusammenhänge“ (7). Diese einzelnen Begriffe hier allesamt zu erläutern liefe Gefahr, zu langweilen – insbesondere, da sich ein Großteil dieses Vokablars schon vom Namen her selbst erklärt.

03. Offenen Texten gerecht werden

Zweifelsohne handelt es sich bei Dea Lohers Diebe um ein offenes Drama im klotzschen Sinn. Schon der Klappentext weist in (wahrscheinlich bewusst) naiver Form auf die Fragmenthaftigkeit und das uneindeutige 'Verwobensein' der dramatischen Handlungselemente hin: „Dea Loher verknüpft in 37 szenischen Skizzen scheinbar absichtslos die Geschichten dieser Figuren zu einem Netzwerk, in dem sie mit ihren Verlusten wie mit ihren Sehnsüchten gefangen sind.“ (8).

Wer dazu geneigt ist, liest aus einer solchen Umschreibung den Versuch heraus, den Leser auf eine Lektüre vorzubereiten, die es ihm nicht leicht machen wird. Das Wort „Skizzen“ scheint den Rat erteilen zu wollen, man solle nicht mit präzisen Bildern rechnen, nicht sofort nach finalen Sinnzusammenhängen fragen, sondern dem Text eine Unfertigkeit zugestehen, die dem Leser mehrere Möglichkeiten einer Vervollständigung gewährt.

Damit ist wiederum ein wesentliches Merkmal des „offenen Kunstwerkes“ umrissen, über das Umberto Eco schreibt:

„Die Poetik des 'offenen' Kunstwerks strebt, wie Pousseur sagt, danach, im Interpreten 'Akte bewußter Freiheit' hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerkes von unausschöpfbaren Beziehungen zu machen, unter denen er seine Form herstellt, ohne von einer Notwendigkeit bestimmt zu sein, die ihm die definitiven Modi der Organisation des interpretierten Kunstwerks vorschriebe […]“ (9).

Das heißt, der Interpret sieht sich in die Situation versetzt, sich unter vielen verschiedenen „Modi der Organisation“ für einen ihm richtig erscheinenden entscheiden zu müssen. Dabei muss er sich darüber im Klaren sein, dass seine Interpretation immer unvollständig bleiben wird. (10).

Im Falle der vorliegenden Untersuchung fiel diese Entscheidung zugunsten eines methodischen Ansatzes aus, der ebenfalls einen Hang zum Fragmentarischen aufweist. Damit soll der Versuch unternommen werden, einem offenen Drama mit einer ebenfalls annährend „offenen“ Analysestruktur gegenüberzutreten. Es ist nämlich nicht unmittelbar ersichtlich, wie einem offenen Kunstwerk, das weitgehend auf linear-kausale Verknüpfungen verzichtet, mit einer nüchternen, lineral-kausalen Analysemethode beizukommen wäre.

Deshalb unterteilt sich diese Arbeit in Kapitel, die exemplarisch einige der metaphorischen Verklammerungen, einige der Integrationspunkte, einige der Kontrast- und Variationsmuster, und einige der „verborgenen Zusammenhänge“ (teils auch zwischen den Zeilen) ans Licht zu holen versucht. Es soll kein redundantes 'Abklopfen' auf klotzsche Definitionen stattfinden, sondern vielmehr ein einigermaßen organisches Gebilde geschaffen werden, das dazu in der Lage ist, bestimmte Prinzipien der offenen Form zu kontextualisieren und implizit sichtbar werden zu lassen. Dennoch werden die Zusammenhänge und Übergänge – so ist zu hoffen – etwas klarer, etwas weniger skizzenhaft ausfallen als in Diebe selbst, denn einerseits kann eine analytische Untersuchung in Sachen Offenheit niemals einem poetischen Werk gleichkommen, und andererseits liefe ein socher Versuch Gefahr, dem Text nichts Neues hinzuzufügen. Oder, wie Eco schreibt:

„[...] wir wissen […], daß jede Bemühung, eine signifikante Form zu definieren, ohne sie bereits mit Sinn ausgestattet zu haben, selbst vergeblich und illusorisch ist: denn jeder absolute Formalismus ist nichts anderes als ein maskierter 'Inhaltismus'.“ (11).

Zudem wäre es wohl verfehlt, anzunehmen, man könne dem in der Druckausgabe 117 Seiten umfassenden und in der Uraufführung knapp vier Stunden füllenden Stück auf nur 16 Hausarbeits-Seiten auch nur ansatzweise gerecht werden. Vielmehr soll auch in diesem Bezug auf ein Leitmotiv des Dramas selbst zurückgegriffen werden: Bestimmte Teile des Stückes sollen wie durch Blitze kurzzeitig klar umrissen werden, während der Rest in Dunkelheit verweilen muss.

04. Beziehungen

Das Figurenensemble von Diebe besteht aus sechs Frauen und sechs Männern. Ist man gewollt, die einzelnen Plots des Stücks zu isolieren, so kann man sechs Hauptstränge zählen, wobei also zwei Figuren jeweils einen Haupthandlungsstrang bedienen.

Wie hält Dea Loher diese Handlungsstränge zusammen? Zum einen durch die zahlreichen metaphorischen Verklammerungen und 'verborgenen Zusammenhänge', deren exemplarische Analyse diese gesamte Arbeit gewidmet ist. Und zu anderen durch Beziehungen und Begegnungen der Figuren untereinander: Einen Großteil des dramaturgischen 'Verves' schöpft das Stück daraus, dass bis zur letzten Szene hin immer mehr Beziehungen und Begegnungen der Figuren untereinander klar werden bzw. stattfinden. Dieses Spiel nimmt in Szene 5 seinen Anfang, in der Linda als Kundin in Monikas Supermarkt auftritt und endet im Grunde mit der allerletzten Szene, in der Linda, Erwin, Thomas und Monika im selben Lokal sitzen. Eine Gesamtübersicht über die fortschreitende Enthüllung von Beziehungen und Begegnungen soll Abbildung 1 liefern. (12).


Abbildung 1 (Das Bild anklicken für eine vergrößerte Darstellung)

05. Blitze 2

Schon in Szene 2 erfahren wir, dass Linda einen magnetischen Mittelfinger hat. Und es wird angedeutet, dass sie einst vom Blitz getroffen wurde. Dass diese beiden Begebenheiten 'kausal' zusammenhängen, finden wir allerdings erst in Szene 32 heraus. Zu Beginn wird der Leser also mit einem grotesken Bild konfrontiert: Der magnetische Finger. Erst gegen Ende des Stückes wird diesem Bild eine 'Erklärung' nachgereicht. Es handelt sich dabei jedoch um eine Erklärung, die zwar tiefer in die Figur hineinführt, die emotionale Beziehung zwischen Figur und Rezipient erhöht – deshalb aber noch lange keine Klarheiten schafft, sondern vielmehr neue Fragen aufwirft. Dieses Muster wiederholt sich in Diebe mehr als einmal.

06. Sprechen lernen 1

„– Das Leben, das is wie Sprechen lernen. Oder Lesen. Oder Schwimmen.
– Kann nich schwimmen.
– Dann eben autofahren.
Pause
– Ich weiß nich, wie das gehen soll.
– Tschecki, jeder kann das. Jeder kann das lernen. Wirklich jeder. So doof kann man gar nicht sein.“ (13).

Sind Sprache und Welt in Diebe in Einklang miteinander zu bringen? Wohl nur an wenigen Stellen. An Stellen wie der obigen wird die Frage jedoch offen gelassen, und damit explizit gemacht:

Gabi ist Besitzerin eines Second Hand Ladens. Sie ist mit Rainer unterwegs, den sie allerdings meist Tschecki nennt. Die beiden suchen nach einer neuen Wohnung, Rainer verhält sich jedoch apatisch, mit seinen Gedanken ist er in einer anderen Welt. Ohnehin erfährt Rainer im Stück seltsame Dopplungen: Auch der Ex-Ehemann von Linda hieß Rainer. Linda imaginiert zu Beginn des Stückes, dass sie mit diesem Ex-Eheman-Rainer zu Tisch sitzen würde. (14). Im weiteren Verlauf des Dramas wird der nicht-Ehemann-Rainer einerseits zu Lindas neuem Freund, andererseits wird er einen grotesken Mordversuch an Gabi unternehmen. Gabi jedoch wird in ihm keinen Mörder sehen, sondern ihn weiterhin für einen hilfsbedürftigen Menschen halten (was sicherlich auch zutrifft).

All diese seltsamen und komplexen Verflechtungen zeugen von einer Doppelgesichtigkeit der Welt, die das gesamte Stück durchdringt. Hinter den Verflechtungen, hinter der Sprache, hinter dem Ausgesprochenen, hinter jeder Handlung im Einzelnen und hinter der Dramaturgie im Gesamten scheint immer eine zweite Welt verborgen zu liegen. Eine, die nicht direkt ausgesprochen werden soll oder kann, die aber sowohl in der Gesamtdramaturgie als auch in einzelnen Worten und Handlungen angedeutet wird. Um mit Bernd Stegemann zu sprechen: Während die Bedeutungsebene weitgehend offen bleibt, ist die Gefühlsebene dennoch affizierend in der Ahnung, die sie für diese 'zweite Welt' erweckt.

07. Sprachskepsis

Gabi sagt, sprechen lernen sei einfach. Das leuchtet zunächst ein. Ein heranwachsendes Kind kann sich eine Sprache problemlos aneignen: Es akzeptiert das Wort, das ein Ding bezeichnet als Pondon für das, was es bezeichnet. Es schert sich nicht um diesen im Grunde doch so arbiträr und ungerechtfertigt wirkenden Akt, der darin besteht, eine zufällige Aneinanderreihung von Buchstaben für immer und ewig an ein in der Welt existierendes Objekt zu ketten.

Deshalb haben es auch nicht alle so einfach mit dem Sprechen lernen. Ab einem bestimmten Alter wird es zu einer Übung in Disziplin mit geringen Aussichten, die Sprache jemals wirklich zu 'meistern'. Die erwachsene Supermarktleiterin Monika hat sich beispielsweise vorgenommen, eine möglichst 'exotische' Sprache zu lernen (Holländisch nämlich), um ihre Karriereaussichten zu verbessern. Ihr Freund Thomas rechnet ihr vor, dass sie sich innerhalb von zwei Jahren schon den Grundwortschatz aneignen könnte. Doch dazu wird es nie kommen: Monikas Hoffnung auf eine Stelle in Holland entpuppt sich als illusorisch.

Kontrastive Variationen wie diese gewähren einen Blick auf die inneren Zusammenhänge des Stückes: Spracherwerb, Lebensfähigkeit und Broterwerb werden aneinander gekoppelt und gleichermaßen problematisiert: Wer zu spät dran ist, wer den 'Bus in die Stadt' (15). verpasst, der wird es schwer haben, den nächsten noch zu kriegen: Wer als Kind kein Holländisch gelernt hat, schlägt sich als Erwachsener lange nutzlos damit herum. Wer nicht zu Leben gelernt hat, wird sein Glück nicht leicht finden können. Wer die Karriereleiter nicht früh genug erklommen hat, der wird sich wahrscheinlich für immer an den ersten paar Sprossen abmühen.

08. Am Rand der Städte

Bernd Stegemann umschreibt unter der Überschrift Dramaturgie des Postdramatischen die Auswirkungen der Sprachskepsis auf die Theatergeschichte. Seine Ausführungen zu der Kluft zwischen Wort und Welt, wie sie in Hofmannstals Brief und in der saussoureschen Unterscheidung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem zum Ausdruck kommen, stehen in Analogie zum soeben Ausgeführten:

„Das Gefühl einer Aufgehobenheit in einem göttlichen Heilsplan wird sukzessive ersetzt durch eine Zugehörigkeit zu einem Beruf, einer Klasse, einem Geschlecht, einer Nation, einer Krankenversicherung usw. Diese Institutionen beginnen ein Eigenleben, indem sie ihre innere Verfasstheit abkoppeln von den Menschen, die von ihnen etwas erwarten.“ (16).

Die Folgen dieses Abkopplungsprozesses dominieren auch Lohers Stück zu großen Teilen. Das gesamte Ensemble des Stückes lebt „am Rande der Städte.“ (17). Nicht nur Erwin, der im Altersheim liegt und vergeblich auf einen Bus wartet, der ihn in die Stadt fahren kann könnte, sondern alle Figuren sind mehr oder minder Ausgestoßene, halb-resiginierte, die irgendwie den Anschluss zur Gesellschaft und auch zu sich selbst verloren haben. In Stegemanns Worten rückt die Welt „in eine Distanz zum Menschen, die jede Art von einer Aussage über sie zu einer komplexen Anstrengung macht.“ (18). Zu einer Anstrengung, die die meisten Figuren in Diebe zwar unternehmen – doch meist ohne bleibende Erfolge erzielen zu können.

Wir sind somit also beim vielzitierten Begriff der Entfremdung angelangt. Dieser Terminus entstammt natürlich der marxschen Philosophie und führt, wenn man von Theater spricht, stets auf direktem Weg zu Brecht und zum epischen Theater. So erhebt Peter Szondi die Verfremdung gar zum Hauptprinzip des epischen Theaters:

„Durch diese Verfremdungen erhält der Subjekt-Objekt-Gegensatz, der am Ursprung des epischen Theaters steht: die Selbstentfremdung des Menschen, dem das eigene gesellschaftliche Sein gegenständlich geworden ist, in allen Schichten des Werks seinen formalen Niederschlag und wird so zu dessen allgemeinem Prinzip.“ (19).

09. Episches Theater und Postdramatisches Theater

Beim Sammeln passender Umschreibungen für Diebe sind nun also schon zwei verschiedene Bezeichnungen gefallen: Der des epischen und der des postdramatischen Theaters. Für Stegemann hebt sich das epische Theater von seinen Vorläufern (bei denen es sich im Übrigen größtenteils um geschlossene Dramen handelt) hauptsächlich dadurch ab, dass ersteres die kathartischen Elemente durch Verfremdungseffekte zu ersetzen und so die dramatische Illusion des Dramas zu eliminieren sucht. (20). Eine wichtige Konsequenz hieraus ist, dass die Zwangsläufigkeit der Dramenhandlung in Frage gestellt wird – womit wiederum dem brechtschen Grundsatz genüge getan wird, die Welt stets als eine Veränderbare darzustellen. Daraus entsteht Stegemann zufolge auch die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen klassischem und epischen Stück: Beide zielen darauf, den Zuschauer zu beeinflussen, gar zu belehren – auch wenn sich die Mittel, die sie zu diesem Zweck einsetzen, stark von einander unterscheiden.

Das postdramatische Theater seinerseits setzt Stegemann zufolge zwar die „Kritik an den Darstellungsmöglichkeiten von Situation, Handlung und Handlungszusammenhang fort“ (21) , schlägt hierbei aber einen völlig anderen Weg ein. Indem es die Sprachskepsis (deren enger Zusammenhang mit dem Gefühl der Entfremdung oben nachgewiesen wurde) in radikaler Form ernst nimmt, muss es sich zwangsläufig von jeder Form von 'Lehrstückhaftigkeit' verabschieden. (22).

Eines der wichtigsten Gestaltungsmittel, denen sich das postdramatische Theater zum Erreichen dieses ehrgeizigen Ziels bedient, ist das der Parataxis. Stegemann beschreibt dies folgendermaßen:

„Das Nebeneinander zweier Ereignisse, die unverbunden aufeinanderfolgen, erzeugt im Zuschauer eine unberechenbare Wahrnehmung. […] Der Zuschauer muss in jedem Moment selbst zur sinnlichen Anteilnahme bereit sein. Erst wenn er diese zulässt und erlebt, kann er den Ablauf der Parataxen als künstlerische Form erfahren. Die Mitarbeit des Zuschauers besteht im Postdramatischen also auf einer neuen Ebene. Er wird zum Autor der von ihm selbst erlebten Ereignisse.“ (23)

10. Unterstellungen

Doch handelt es sich bei Dea Lohers Stück nun eher um ein episches oder um ein postdramatisches Stück?

Einerseits macht Diebe sich eindeutig epische Gestaltungsmittel zu eigen. Hierunter fällt zum Beispiel der streng alternierende Wechsel zwischen Szenen, die in Prosaform und Szenen, die in Dialogform verfasst sind. Denn wie soll man diese Prosa-Szenen eigentlich inszenieren? Für die Erstaufführung des Stückes entschied sich Andreas Kriegenburg dazu, den Figuren selbst den Prosatext in den Mund zu legen. Auf der Bühne ratterten die Darsteller also ihre eigenen Handlungsanweisungen hinunter – ein typisch brechtischer Verfremdungseffekt. (24)

Andererseits tut man sich schwer, dem Stück einen Lehrstückcharakter zu unterstellen. Es ist ja nicht einmal leicht, sich auf ein einziges Thema zu einigen, das das Stück etwa von verschiedenen Seiten beleuchtet. Mag sein, dass das vorherrschende Gefühl des Stückes das des Ausgesetzt-Seins von Menschen aller Alters- und Gesellschaftssschichten in der heutigen Zeit ist. (25) Eine Zeitkritik also. Doch das ist noch viel zu unscharf, viel zu allgemein, als dass man daraus eine Richtung ableiten könne, in die sich diese Welt verändern sollte. Das wiederum passt zu der (Sprach-)skeptischen Auffassung des postdramatischen Theaters: Die Sprache ist nicht stark genug, um eine exakte Aussage darüber treffen zu können, was das Leben ist – und wie wie es eventuell zu verbessern wäre. Selbst wenn man der Szenenfolge von Diebe unterstellen wollte, in ihr käme eine gewisse Form der Stationentechnik zur Anwendung, würde man sich höchst wahrscheinlich die Zähne daran ausbeißen, erörtern zu wollen, welchen dialektischen Prozess diese Stationen dann beschreiben – oder gar, welche Negation hier konkret zu negieren wäre.

Meiner Ansicht nach ist keine der beiden theatergeschichtlichen Schubladen die Richtige. Es ist auch nicht ersichtlich, welche erkenntnisfördernde Wirkung eine schlichte Etikettierung des Stückes haben sollte. Dennoch spürt man deutlich, dass das Stück bei beiden Traditionen gewisse Anleihen macht.

11. Diebe

„Glauben Sie, dass es viele von meiner Sorte gibt. Menschen wie ich, die leben, als lebten sie nicht. Die sich durch ihr eigenes Leben hindurchstehlen, vorsichtig und scheu, als ob ihnen nichts davon gehören würde, als ob sie kein Recht hätten, sich darin aufzuhalten. – Als ob wir Diebe wären.“ (26)

Es ist Ira, die diese Worte spricht. Sie unterhält sich mit Erwin. Sie warten auf den Bus in die Stadt, der einfach nicht kommen will. Die beiden führen ein ungewöhnlich offenes Gespräch, erzählen sich von ihrer Vergangenheit. Ira hat 43 Jahre in einem Hotelzimmer auf die Rückkehr ihres Ehemannes gewartet. Erwin wurde seinerseits von zwei Ehefrauen verlassen. Im Gegensatz zu Ira hat er jedoch stets versucht, weiter zu „kämpfen“ (27).

In dieser beckettschen Situation sitzen sich also zwei dialektische Gegensätze gegenüber, und sie scheinen sich dessen sogar halbwegs bewusst zu sein. Erwin antwortet auf Iras 'Diebe-Monolog': „Ich bin das Gegenteil, ich kann den Dingen nicht ihren Lauf lassen. Ich nicht. – Wahrscheinlich war ich deswegen immer allein, und bin es bis heute.“ (28)

Sie sitzen sich gegenüber, haben völlig gegenläufige Überlebensstrategien, sprechen sogar offen aus, was ihnen auf dem Herz liegt – und müssen gerade dadurch feststellen, dass keiner der beiden Ansätze dem anderen überlegen ist. Ob man sein Leben lang kämpft oder sein Leben lang wartet – am Ende wartet man einsam auf den Bus, der doch nicht kommt. (29)

So scheint es zumindest.

12. Stehaufmännchen

Nicht wenige Kritiker äußerten sich in ihren Reaktionen auf die Uraufführung von Diebe zwiespältig über die für Dea Loher Verhältnisse überraschend große Rolle, die Komik in diesem Stück spielt. (30) Komik war bisher in Lohers Stücken eher selten anzutreffen – doch viel interessanter als die Anwesenheit von Komik ist die Art und Weise, in der Komik hier zum Ausdruck kommt. Da wäre zunächst das große Spektrum von komischen Effekten, die Loher erreicht: Es reicht vom Slapstickhaften und Parodistischen (man denke an die Schmitts) bis hin zum schwarzen Humor und zum Grotesken. Hier sei exemplarisch nur auf zwei spiegelbildliche, komplementäre Szenen verwiesen, und zwar auf die beiden Szenen, die sich auf der Polizeiwache zwischen Thomas und jeweils einer anderen Frau (zunächst Ira, dann Gabi) abspielen. Beide dieser Szenen sind auf eine überraschende, ja groteske Pointe hin konstruiert. In der Szene zwischen Thomas und Ira schleicht sich das groteske Element erst durch die Pointe in das Geschehen ein: In einem Hotelzimmer vom eigenen Mann verlassen zu werden mutet zunächst ziemlich alltäglich an – bis Ira plötzlich enthüllt, dass dies schon vor 43 Jahren geschehen ist und sie sich erst jetzt darüber wundert. Der Erlebnisbericht, den Gabi Thomas schildert ist hingegen von Anfang an als grotesk gekennzeichnet und steigert sich dann schlicht immer weiter: Die Vorwände, die Rainers Mordversuch begleiten, werden immer absurder. Die Pointe besteht schließlich darin, diese im Grunde nicht steigerbar erscheinende Erzählung von einem Mordversuch schlagartig zu verkehren, indem Gabi am Ende zu erkennen gibt, sie wolle Rainer gar nicht anzeigen.

Was ist das für eine sonderbare Art der Komik? Es ist eine, die in vielen Punkten schlichtweg darin besteht, in auswegslosen Situationen einfach doch wieder aufzustehen und weiterzumachen als wäre alles halb so schlimm. Es ist eine, bei der einem häufig das Lachen im Hals stecken bleibt – und die dennoch eine gewissen Optimismus in sich trägt: Den Optimismus des unermüdlichen Stehauf-Männchens.

13. Rostiger Anker

In einem Publikumsgespräch erläutert Dea Loher, das Entscheidende an Iras 'Diebe-Monolog' sei, dass er nicht als Feststellung oder als Urteil formuliert ist, sondern: als Frage. (31) Dementsprechend ist die Atmosphäre in Diebe auch keine resignative. Ein Großteil der Figuren im Stück entwickeln sich aus ihrer bescheidenen Ausgangssituation nicht etwa hin zu einer Form der depressiven Niedergeschlagenheit, sondern vielmehr hin zu einem neuen Aufbäumen – wobei dieses Aufbäumen sich aber eben nie von der Frage befreien kann, ob sich der Aufwand überhaupt lohnt.

Exemplarisch zeigt sich das an Ira selbst (obwohl ihr im Stück nur zwei – wenn auch ausführliche – Szenen gegönnt sind, spielt sie dennoch, bedingt durch den 'Diebe-Monolog', im Drama eine zentrale Rolle). Ira hat 43 Jahre in einem Hotelzimmer auf ihren Mann gewartet. Eine statischere, lebensverneinendere Situation kann man sich kaum vorstellen. Und das Einzige, was ihr darüber zu sagen einfällt ist: „Ich habe nie darüber nachgedacht.“ Doch nun, zu dem Zeitpunkt, als wir ihr im Stück begegnen, hat sie aus ungenannten Gründen den Entschluss gefasst, nicht mehr zu warten – denn sie fährt fort: „Das ist doch seltsam, finden Sie nicht. Noch seltsamer, dass es mir erst jetzt auffällt.“ (32) Kurzerhand verabredet sie sich sogar mit Erwin im rostigen Anker. Sie wittert, wie so viele Figuren in Lohers Stück, den Hauch der Veränderung. Sie macht gute Miene zu bösem Spiel und eine Zeit lang scheint es sogar so, als könnte tatsächlich eine Wende in ihrem Leben eintreten. Ob es zu dieser Wende tatsächlich kommt wird im Stück nicht eindeutig geklärt. Dass Ira in der finalen Szene (die vier der zwölf Figuren in einem Lokal zusammenführt, bei dem es sich wohl um den rostigen Anker handeln muss) Erwin jedoch versetzt zu haben scheint, lässt zumindest für ihre Figur nichts Gutes ahnen.

Das 'Entwicklungs'-Muster lautet also: nach langer Statik (die größtenteils vor dem Einsetzen der Handlung stattfindet) ringt sich die jeweilige Figur zu einem kleinen aber bedeutenden Akt des 'Aufbäumens' oder vielleicht 'Neu-Anfangens' durch – um gegen Ende wieder zurückgeworfen zu werden:

Linda findet Hoffnung in einer neuen Beziehung zu Rainer, der sich dann jedoch als Psychopath (oder ähnliches) entpuppt und sie verlässt.

Monika arbeitet schon seit Jahren im örtlichen Supermarkt. Zu Beginn des Stückes setzt sie große Hoffnungen in eine Stelle im Ausland. Thomas und sie arbeiten Tag und Nacht, doch dann nehmen sie sich auch einmal Urlaub (die einzige Szene, die nicht „am Rand der Städte“ angesiedelt ist). Dort jedoch fallen sie und ihr Kind beinahe der herannahenden Flut zum Opfer. (33) Danach verliert Monika sowohl ihren Job als auch ihren Freund Thomas – und findet sich gegen Ende des Stückes aus unerklärten Gründen mit einer Kugel im Kopf wieder.

Josef verdient als Bestatter nicht viel Geld, doch in seiner ersten Szene (Nummer 15) erwähnt er, dass er von seiner Mutter ein wenig Geld geerbt habe: „Ich könnte etwas Neues anfangen.“ (34) Um seine Partnerin Mira davon zu überzeugen, ihr Kind auszutragen, entscheidet er sich, Miras Vater ausfindig zu machen. Aus diesem Grund nistet er sich bei den Schmitts ein und beobachtet sie eine Weile lang. Doch in Szenen 31 scheitert er schließlich an der Starrheit und Sturheit der Schmitts: er behauptet, durch sie „ganz leidenschaftslos“ geworden zu sein, woraufhin ihn die Schmitts (äußerst leidenschaftslos?) mit Haushaltsgeräten erschlagen. (35)

Doch die wenigsten Handlungsstränge enden derartig final. Die meisten von ihnen bleiben so offen wie die Überschrift der letzten Szene: „Und dann“. Ob man in dieser Überschrift ein Fragezeichen mitlesen will oder nicht, bleibt dem Rezipient überlassen. Dass das Stück auf diese Offenheit beharrt, lässt die brechtische „veränderbare Welt“ anklingen. Das paradoxe ist, dass das Stück im Erscheinungsbild des Textes auf Fragezeichen bis auf eine einzige Ausnahme (36) verzichtet, in der Handlung aber immer und immer wieder Fragen gestellt werden: am deutlichsten Eben die Frage, ob 'wir alle' Diebe sind oder nicht.

Das Stück stellt also sehr wohl Fragen, fordert im Sinne eines Lehrstücks zum Nachhaken und Überdenken auf. Doch die Fragen sind nicht, wie bei Brecht, in einer solchen Art und Weise gestellt, dass man sich ziemlich genau vorstellen kann, wie die Antworten auszusehen haben – nein, sie sind ja nicht einmal mit einem Fragezeichen als Fragen gekennzeichnet! Vielmehr dominiert eine Ratlosigkeit der Figuren das Stück, eine Rastlosigkeit.

14. Josef und Finn

Der relativ optimistisch wirkende Josef ist der komplette Gegenpol zum depressiven Finn. Die beiden Figuren verhalten sich wie Spiegelbilder zueinander. Von den zwölf Ensemblefiguren sind es ausgerechnet Josef und Finn, die sterben: Josef wird ermordet, Finn ermordet sich selbst. Finn entpuppt sich im Laufe der Handlung als Dichter, denn Linda sagt über ihn: „Er hat die Wände beschrieben. Namen, Ziffern, Zahlen, Fragmente von Gesprächen, Zitate, Gedanken, Gedichte.“ (37) Diese Substantivkette zeichnet den Weg von Finns bisherigen sachlichen, geerdeten Tätigkeit als Versicherungsagent hin zum fantasiebegabten, aber depressiven 'Dichter'. Josef macht eine gegenläufige Entwicklung durch: Zuerst halten ihn die Schmitts für ein wildes, bedrohliches Tier. Als Sie ihn entdecken, äußert er jedoch den Wunsch, sie einfach nur beobachten zu dürfen: „Er will Sie beobachten. […] Er will Ihr Leben kennen lernen. Die äußeren Umstände. Aber viel mehr noch die inneren Umstände. […] Er ist interessiert an Ihnen.“ (38)

Während Finn also zu einer Art Autor mutiert, entwickelt sich Josef zu einer Art Zuschauer.

15. Sich selbst verlieren

Am 16. Juli 2006 hält Dea Loher eine Rede, in der sie von ihren persönlichen Erfahrungen in Afghanistan spricht. Es ist ausgerechnet die Rede zum Empfangen des Bertolt-Brecht-Literaturpreises.

Loher war in Kabul unter anderem an einem Theaterworkshop des Goethe-Instituts beteiligt. Afghanischen Studenten sollten gemeinsam ein eigenes kleines Stück entwickeln. Es kam ein Plot zustande, der um einen Bauern namens Hodscha kreist. Diesem gehen auf dem Nachhauseweg zuerst sein Mehl und dann sein Esel verloren. Nun hat er Angst, den Weg nocheinmal abzusuchen, denn, so sagt er: „Ich habe schon mein Mehl und meinen Esel verloren, was soll ich tun, um nicht auch noch mich selbst zu verlieren?“ (39) Dea Loher betont, dass diese Frage die Studenten immer wieder beschäftigte.

Die Verwandtschaft zwischen Hodscha und den Figuren in Diebe ist offenkundig: Obwohl diese sich in einem völlig anderen Kulturkreis bewegen, bringt Hodschas Geschichte genau das seltsame Gefühl – die seltsame Resignation, die seltsame Komik – zum Ausdruck, das sie auf ihrem Weg durchs Stück stets begleitet. Aus völlig alltäglichen Problemen und Verlusten werden plötzlich Ängste, die den eigenen Körper unmittelbar betreffen und ins Übernatürliche weisen. Vom Blitz getroffen (und vom Partner im Stich gelassen) zu werden ist sicherlich eine Urangst. Die übernatürliche Wirkung der Konfrontation mit dieser Angst ist Lindas magnetischer Finger. Nach der Trennung von Thomas – eine weitere Angstsituation – findet Monika sich mit einer Kugel im Kopf wieder. In Diebe hat sich die Angst vor einer übernatürlichen, an Aberglaube erinnernden, Konsequenz des eigenen Tuns und Waltens zu großen Teilen also bereits als berechtigt erwiesen: Zwischen Ursache (Trennungsschmerz) und Wirkung (Kugel im Kopf) hat sich eine Lücke aufgetan, die keine Kausalverknüpfung überbrücken kann (schließlich wird die Kugel ja nicht etwa von Thomas oder von Monika selbst in ihren Schädel befördert, sondern sie taucht dort urplötzlich einfach auf).

Doch zurück zu Dea Lohers Rede, der zufolge sie aus Afghanistan mit einem noch nie gekannten Gefühl der Leere zurück kehrte:

„Ja, man kann die Situation in Afghanistan analysieren, man kann sie sich verstehbar und verständlich machen; man kann sich an Zahlen und Fakten halten, aber das, was als Eindruck dahinter steht, das kann man – so ist meine Erfahrung – kaum, gar nicht vermitteln: die Sinnlosigkeit. Ich hatte zwischendurch Gefühle der Apathie, der Hilflosigkeit, der Wut. Aber vorherrschend war das der Sinnlosigkeit allen menschlichen Tuns, der Sinnlosigkeit des Lebens. Ihr fühlte ich mich ausgesetzt wie nie und nirgends zuvor.“ (40)

Man kann behaupten, Dea Loher beschreibt hier eine Sprachkrise, die mit der des Briefs von Hofmannsthal vergleichbar ist: Persönliche, eindrucksvolle Erlebnisse (die bei Dea Loher stark in einen politischen Hintergrund eingebettet sind) führen zu der Erkenntnis, dass Sprache nicht fähig ist, diese so gewonnenen Eindrücke jemals zu vermitteln. Die Konsequenz ist eine Lücke, eine Leerstelle (wie die zwischen Ursache und Wirkung), eine Frage ohne Fragezeichen, die durch keine Erklärung auszufüllen ist.

Während in Brechts Stücken meist noch verhältnismäßig deutlich darauf hingewiesen wird, wie der Zuschauer die Lücken mit Sinn anzureichern hat (man denke nur an die Parabel des kaukasischen Kreidekreises, für sich genommen), scheint bei Loher die Lücke gerade mit einem Gefühl für die Sinnlosigkeit menschlichen Handelns gefüllt werden zu sollen: „Sinnlosigkeit, das ist die Lücke, die auch ein Gott immer offen läßt. Und dahinter: das Nichts. Der Abgrund des Nichts.“ (41)

16. Lücke

Doch ginge es Dea Loher einzig und allein um diese Lücke, dann wären ihre Stücke wirklich rein pessimistischer, rein resignativer Natur. In Das letzte Feuer, das 2008 uraufgeführt wurde, sind diese Elemente weit stärker vertreten und werden auch deutlicher mit Kriegserfahrungen in Verbindung gebracht: Der Kriegsheimkehrer Rabe leidet unter einer extremen Form der postraumatischen Belastungsstörung, die ihn unter anderem dazu verleitet, seine Fingernägel bis auf die Knochen abzufeilen. An einer zentralen Stelle im Stück berichtet er:

„Die Wörter – die Worte – das ist außen. Woher kann ich wissen – was der andere versteht. – Da sind meine Eindrücke, und Gedanken, und Erinnerungen, und – die Gefühle. Aber welche Wörter gehören zu diesen Gefühlen. – Ich weiß nicht mehr, manchmal, wie das alles zusammenpasst. Wo die Wörter zu Worten werden, und mit mir übereinstimmen, wo gehört was hin.“ (42)

Was in Das letzte Feuer geäußert und dargestellt wird hat also einen viel vordergründigeren Bezug zu Dea Lohers eigener 'Sprachkrise' als Diebe. Bemerkenswert ist, in welch enger Verbindung auch hier politische und sprachliche Krisen stehen – ja sich einander sogar zu bedingen scheinen. Deshalb ist es wohl auch bezeichnend, dass die einzige Figur aus Diebe, die in ihrer Verzweiflung und 'Ausgesetztheit' dem Figurenensemble aus Das letzte Feuer auch nur nahe zu kommen vermag, der 'Dichter' Finn ist. Die restlichen Figuren in Diebe zeigen im Vergleich hierzu allesamt eine Entwicklung an – oder zeigen zumindest, dass auch Dea Loher sich von ihrem eigenen 'Schock' ein wenig erholt zu haben scheint. Denn schon in ihrer Dankesrede für den Brecht-Preis fährt sie über die Möglichkeiten der Sprache fort:

Einer der Hauptantriebe meines Schreibens ist gleichzeitig der Impuls und Handlungsmotiv für viele meiner Figuren: ein Gedächtnis schaffen, Dinge dem Vergeßen [sic!] zu entreißen, sich zu erinnern, und dadurch eine Zukunft zu haben. […] Schreiben, das heißt, Zusammenhänge suchen, Erklärungen, Hypothesen, auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit manchmal, aber diese Suche wird dann wertvoll, wenn sie sich von der Realität abfedert und Räume öffnet, die es so nur in der Sprache gibt und die unsere Wirklichkeit erweitern. (43)

Mit Diebe scheint es Dea Loher gelungen zu sein, diese Absicht weitaus subtiler und vielschichtiger umzusetzen als beispielsweise in Das letzte Feuer. (44) Die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, die unterschiedlichen Situationen, die unterschiedlichen Lebensentwürfe, Anekdoten und Erlebnisse, von denen die Figuren dieses großen Ensembles erzählen oder die sie zu bewältigen versuchen – das alles sind Situationen, wie sie gegenwärtig überall in Deutschland auftreten bzw. auftreten können. Es werden also Erinnerungen an die heutige Zeit festgehalten. Anstatt, wie Brecht, eine 'veränderbare Welt' zu inszenieren, zeigt Dea Loher eine 'zu erinnernde Welt' auf. Und der letzte, der finale Schritt, weist dann in die Sphären der Phantasie und der sprachlichen Schöpfungskraft: der magnetische Fingerdeut in eine ungewisse Zukunft.

17. Sprechen lernen 2

In einer der hoffnungsvolleren Szenen (mit dem freundlichen Titel „Freunde 1“) liest Linda Rainer ein Gedicht vor, das sie in Finns Schuh gefunden hat. Es ist auf Spanisch. Rainer beschwert sich zunächst, dass er kein Wort verstehen kann. Linda versucht, ihn dazu zu bringen, dennoch einfach hinzuhören: „Na und, ich kann auch keine Fremdsprachen, aber ich bemühe mich wenigstens.“ Rainer fordert Linda heraus, indem er fragt, was das Gedicht denn bedeute. Linda muss zugeben, das sie es auch nicht verstehen kann. Rainer fühlt sich dadurch zunächst bestätigt: „Also. Das hilft uns überhaupt nicht weiter.“ An diesem entscheindenen Punkt entgegnet Linda: „Hören Sie denn nicht, wie das klingt. Hören Sie zu, hören Sie, wie das klingt … wiederholt ein paar Worte… Das könnte man singen.“ Eine kurze Pause folgt, Rainer scheint aufmerksam hinzuhören. Dann schließlich gibt er zu: „Ja doch, jetzt höre ich es auch. Ich höre es.“ Linda geht aus diesem kleinen dramaturgischen Vorgang als 'Siegerin' hervor: Sie hat Rainer überzeugt, dass man jede Sprache verstehen kann – wenn, ja wenn man nicht stur nach ihrem Sinngehalt fragt, sondern auf ihre Melodie zu hören lernt. (45)

18. Blitze 3

Von einem Blitz getroffen zu werden ist ein äußerst seltenes Ereignis. Dennoch erzählt auch Monika in Szene 29, sie sei von einem Blitz getroffen worden. Doch im Gegensatz zu Linda meint sie das nicht im wörtlichen, sondern lediglich im metaphorischen Sinn: „Ich denk, mich trifft ein Blitzschlag.“ (46) Das ist schon weitaus weniger selten.

Als Linda vom Blitz getroffen wurde, rannte sie in dunkler Nacht auf einem Feld. Sie wurde „kurz“ Ohnmächtig, ging dann weiter zum Auto, in dem ihr Ex-Ehemann Rainer auf sie wartete. Der neue Rainer – der, dem sie das alles erzählt – ist erstaunt über die Tatsache, dass ihr Rainer sie damals im Stich gelassen hat: „Ohne dich, er ist zum Auto gelaufen, er hat alles stehen und liegen lassen, er hat dich liegen lassen, er hat sich in Sicherheit gebracht, ohne dich.“ (47) Linda will das anders sehen: Rainer habe ja nach ihr gerufen. Linda wurde im Stich gelassen, doch sie macht sich etwas anderes vor. Dementsprechend macht ihr auch der Blitzschlag nicht allzu viel aus: „Seither habe ich den magnetischen Finger. Sonst ist nichts geblieben.“ (48)

Monika wird von ihrem Chef entlassen – und nun kann sie sich nichts mehr vor machen. Dementsprechend macht dieser metaphorische Blitzschlag ihr viel mehr aus als Linda der tatsächliche: „Da hab ich gemerkt, dass ich kein Individuum bin.“ (49)

Hier findet sich also wieder ein Moment, in dem eine Figur die Selbstentfremdung, die sie erfahren hat, ganz explizit ausspricht. Doch, wie die anderen Figuren in Dea Lohers Stück, zieht sie hier keinen Schlussstrich, sondern fährt unmittelbar fort: „Aber die Nerven bewahren, und zeigen, dass man Humor hat, auch in kritischer Situation.“

Kürzer als in diesem letzten Satz – oder besser: Satzfragment – kann man die Grundton des Stückes nicht auf den Punkt bringen. (50)

Claudio, Oktober 2011

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Loher, Dea: Das letzte Feuer. Land ohne Worte. Zwei Stücke. Frankfurt am Main 2008.
Loher, Dea: Diebe. Frankfurt am Main 2010.
Loher, Dea: Rede zur Verleihung des Bertolt-Brecht-Preises am 16. Juli 2006 in Augsburg.
(Abgerufen am 09.09.2011 unter Brecht_Rede_Dea_Loher.PDF.)

Sekundärliteratur

Becker, Peter von: Vom Geheimnis der Farce. In: Der Tagesspiegel. Berlin 17. Januar 2010.
(Abgerufen am 09.09.2011 unter vom-geheimnis-der-farce.)
Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main 1990.
Kämpf, Simone: Gelächter im swingenden Schaufelrad. In: Die Tageszeitung. Berlin 19. Januar 2010.
(Abgerufen am 09.09.2011 unter Gelächter im swingenden Schaufelrad.)
Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1999.
Rademachers, Guido: Swing und Schicksalsdunkel. Publikumsgespräch zu Dea Lohers Diebe.
(Abgerufen am 09.09.2011 unter publikumsgespraech.)
Stegemann, Bernd: Lektionen 1. Dramaturgie. Berlin 2009.

Fußnoten

(1) Diebe, S. 99.

(2) Klotz (1999), S. 216f.

(3) Klotz (1999), S. 216.

(4) Klotz (1999), S. 218.

(5) Stegemann (2009), S. 287.

(6) Insgesamt wird ersichtlich, daß das offene Drama zwar primär vom Einzelnen ausgeht, daß es selbst seinem kleinsten Teil, der Szene, eine ziemlich starke Autonomie beläßt – daß es aber trotzdem in seinem Aufbau sich nicht auf eine willkürliche Reibung und Kumulation dieser Einzelteile beschränkt, sondern bestimmten Gesetzen folgt, die freilich nicht so klar zutage treten wie im geschlossenen Drama.“ (Klotz (1999), S. 156).

(7) Klotz (1999), S. 109.

(8) Diebe, Klappentext.

(9) Eco (1973), S. 31.

(10) Vgl. Eco (1973), S. 49 (unter Bezugnahme auf Mallarmés Livre): „Jede Ausführung erläutert, aber erschöpft es nicht, jede Ausführung realisiert das Werk, aber alle zusammen sind komplementär zueinander, jede Ausführung schließlich gibt uns das Werk ganz und befriedigend und gleichzeitig unvollständig, weil sie uns nicht die Gesamtheit der Form gibt, die das Werk annehmen könnte.“

(11) Eco (1998), S. 13.

(12) In dieser Abbildung wird unter anderem ersichtlich, dass Linda die größte Anzahl an Beziehungen zu anderen Figuren aufweist. Ihr deshalb die Funktion einer Mittelpunktsfigur zuzuweisen hieße jedoch, zu weit zu greifen: Dafür müsste ihre Figur als eines der 'primären Ordnungsprinzipien' die Szenen durch ihre Anwesenheit miteinander verknüpfen.

(13) Diebe, S. 50.

(14) Deshalb ist auch nicht ganz klar, ob dieser Rainer überhaupt tatsächlich existiert. Zu Beginn des Stückes wird auf Rainer unter der paradoxen Umschreibung „[...] sagt sie zu ihrem Mann, den es nicht gibt, der ihr gegenübersitzt“ (Diebe, S. 10) Bezug genommen. Zu diesem Zeitpunkt ist Rainer also deutlich als Einbildung gekennzeichnet. Da Linda Rainer jedoch später ihren Ex-Ehemann nennt, ist durchaus denkbar, dass er damals tatsächlich existierte und sie ihn erst imaginiert, seit er sie verlassen hat.

(15) Vgl. Szene 27, die im nächsten Abschnitt und weiter unten ausführlicher behandelt wird.

(16) Stegemann (2009), S. 285.

(17) So der Hinweis im Personeneregister (Diebe, S. 6. ).

(18) Stegemann (2009), S. 285

(19) Zitiert nach Stegemann (2009), S. 254.

(20) Stegemann (2009), S. 238: „All diese dramaturgischen Neuerungen haben ihr Ziel darin, die dramatische Illusion aufzuheben, um ein kommentierendes Element in das Handlungsgefüge des Dramas zu bringen. Es werden also lyrische Formen – subjektive Monologe – und epische Formen – objektive Berichte, Kommentare und Erzählungen – in die dramatische Form integriert.“

(21) Stegemann (2009), S. 284.

(22) Daher auch der Titel eines Essays von Heiner Müller: Verabschiedung des Lehrstücks.

(23) Stegemann (2009), S. 287. Hier fühlt man sich selbstverständlich stark an die Beteiligung des Rezipienten am offenen Kunstwerk erinnert, vgl. Eco (1973), S. 37: „In den ausdrücklich auf das Andeuten gegründeten dichterischen Werken […] möchte der Text bewusst die persönliche Welt des Lesers so anregen, dass er aus der Tiefe seiner Innerlichkeit eine über geheimnisvolle Konsonanzen zu Stande kommende Antwort zieht.“

(24) Vgl. z.B. Becker (2010): „Mit Lust und einer selbst im Traurigen unterschwelligen Lustigkeit spielen sie in den von Dea Loher eingestreuten Passagen episch-indirekter Rede ihre eigenen Regieanweisungen gleich mit. Ist von einem Kinderauto, einer Kaffeetasse oder einer Kopfwendung die Rede, rucken die Hälse und man hat die Requisiten wie im brechtischen Kasperletheater gleich zur Hand.“

(25) Im Stück zusätzlich symbolisiert durch den allein herumstreunenden Wolf, der ja eigentlich im Rudel leben sollte, wie Linda in Szene 6 feststellt: „Jaa, Wölfe leben im Rudel. / Also, wenn die Bedingungen normal sind.“ (Diebe, S. 22)

(26) Diebe, S. 83.

(27) Diebe, S. 81.

(28) Diebe, S. 83.

(29) Aufgrund der dialektischen Anordnung, der analytischen Sprache und dem unmittelbaren Bezug zum Titel 'Diebe' ist, wenn man danach suchen will, in dieser Szene der Integrationspunkt des Stückes zu verorten. Betrachten wir hierzu Klotz' Definition: „[Im Integrationspunkt] kommt das Bedeutungsfazit bündig zur Sprache und stellt das aus vielen Einzelpartikeln sich zusammensetzende besondere Geschehen des Dramas in einen größeren Zusammenhang. Es ist der Fluchtpunkt, in dem die vielerlei Perspektiven des Dramas sich koordinieren.“ (Klotz, S. 112). Zweifelsohne integriert Ira in ihrem 'Diebe-Monolog' alle Figuren und deren Episoden in einen 'größeren Zusammenhang', denn sie führt eine Gemeinsamkeit auf, die sie alle teilen: Sie alle stehen vor der Frage, ob sie im metaphorischen Sinn Diebe sind oder nicht. Durch Ira werden die Figuren integriert, die diese Frage eher mit 'Ja' beantworten – und durch Erwin diejenigen, die eher mit 'Nein' antworten würden.

(30) Vgl. beispielsweise Kämpf (2010).

(31) Vgl. Rademachers (2010).

(32) Diebe, S. 82.

(33) Vgl. Diebe, S. 64. Wieder ist es eine Naturgewalt, die das Leben einer Figur verändert – vergleichbar mit dem bereits thematisierten Blitzmotiv.

(34) Diebe, S. 44, eigene Hervorhebung.

(35) Diebe, S. 96.

(36) Diese Ausnahme findet sich bezeichnenderweise in der Szene zwischen Thomas und Gabi auf der Polizeiwache: Kurz bevor die Absurdität ihren Höhepunkt findet weist Thomas Gabi darauf hin, dass ihr Partner wohl beabsichtigte sie zu töten. Auf Gabis völlig unerwartetes „Ja, weiß ich jetzt nich“ fehlen ihm die Worte: seine Replik besteht aus einem einzigen „?“ (Diebe, S. 73).

(37) Diebe, S. 91.

(38) Diebe, S. 62. Dass Josef hier von sich selbst in der dritten Person spricht verstärkt den Eindruck, dass er nicht nur über sich selbst, sondern über eine Entität, eine, die sich hinter der vierten Wand versteckt, d.h. also: über den Zuschauer spricht.

(39) Rede zur Verleihung des Bertolt-Brecht-Preises, S. 2.

(40) Rede zur Verleihung des Bertolt-Brecht-Preises, S. 7.

(41) Rede zur Verleihung des Bertolt-Brecht-Preises, S. 7.

(42) Das letzte Feuer, S. 59. Vergleiche hierzu Rede zur Verleihung des Bertolt-Brecht-Preises, S. 8: „Ich weiß auch nicht, ob die Tatsache, daß viele Soldaten aus Kriegseinsätzen […] zurückkommen und über ihre Erlebnisse schweigen, damit zusammenhängt. […] Aber es muß auch etwas mit dem Verlorengehen von Sprache zu tun haben. Dem Ursprünglichen: Fehlen von Worten. Dem Verlust eines Bindeglieds, in dem sich Sinn herstellt: nämlich dem ordnenden, auch spielerischen Zugriff der Sprache. Etwas Selbstverständliches wird zerstört. Der normale Vorgang, die Sicherheit, das, was ich fühle und erlebe, in Worten ausdrücken zu können, ist zerbrochen.“

(43) Rede zur Verleihung des Bertolt-Brecht-Preises, S. 7

(44) Ein nicht zu vernachlässigender Teil dieser Wirkung wird durch die Komik erreicht, die das Stück durchzieht und die hier bereits thematisiert wurde.

(45) Oder, um wieder an Stegemanns Formulierung zu erinnern: Die Sinnebene kann offen bleiben, doch die Gefühlsebene muss affizierend sein.

(46) Diebe, S. 86.

(47) Diebe, S. 100.

(48) Diebe, S. 100.

(49) Diebe, S. 86.

(50) Man könnte unter gewissen Vorbehalten also auch an dieser Stelle den Integrationspunkt verorten. Zwar ist der übergreifende Bezug zu den anderen Episoden nicht so explizit herausgearbeitet wie in Iras 'Diebe-Monolog', doch dafür kommt in Monikas Haltung deutlicher das Element des Stehauf-Männchens, das alle Figuren begleitet, zum Ausdruck.

Anhang: Szenenanalyse Dea Loher Diebe
Nr. Figuren Inhalt Anmerkungen
1 FINN Wachen 1
Finns Wecker klingelt. Finn beschließt, nie mehr aufzustehen
Prosaform
2 LINDA Wolf
Linda sitzt mit imaginärem Kind („Unbefangen“?) und imaginärem Mann Rainer am Esstisch, berichtet von Wolfsichtung.
Kind und Rainer bezweifeln, dass es ein richtiger Wolf war.
Linda besteht darauf.
Die beiden anderen scheinen nachzugeben: man müsse den Wolf dann dem Amt melden. Was sei denn danach passiert?
Prosaform

Motive: Wolf („Steht Wolf für Anfang Neubeginn oder für Abschied Verfall.“) Blitz, magnetischer Mittelfinger, Zufall, Märchen, Unwahrscheinlichkeit.

Wolf hat menschliche Eigenschaften.
3 Finn Wachen 2
Wiederholung Wachen 1
Schaut im Raum umher. Gleichgültigkeit. Schließt Augen wieder
Prosaform
4 MONIKA, THOMAS Aussicht 1
Monika erzählt Thomas von Gespräch mit Chef, der ihr Hoffnung machte, nächstes Jahr im Ausland Supermarktleiterin werden zu können. (z.B. Holland)
Thomas hält das für Geschwätz („Seife“), vermutet andere Beweggründe dahinter. Jedenfalls wäre nicht viel verloren, wenn es doch nicht klappen sollte: „Wir haben keine Not. Oder.“
Durch Schweigen wird klar, dass sie natürlich im Grunde doch Not haben, jedenfalls keine Anerkennung erfahren.
Dialogform
Rätseln über einen Dritten

humorvolle Szene: aneinander vorbei sprechen,

Viel Schweigen

Motive: Hoffnung, Anerkennung, Supermarkt

Sprache lernen
5 Herr und Frau SCHMITT Spuren 1
Herr und Frau S. hochen auf ein Tier, das sich in ihrem Garten eingenistet hat und Spuren hinterlässt.
Das mysteriöse Tier bereitet den beiden Unbehagen: „Was will das Tier von uns.“ Sie halten es für ein schlaues Tier, das ihnen absichtlich aus den Weg geht und mit Spuren absichtlich seine Anwesenheit markiert.
Fr. S. sagt, man müsse es unschädlich machen, bevor es seine „Verwandten“ mitbringt
Dialogform

Rätseln über einen Dritten

Motive: wildes Tier („harmlos“?), Dieb, Mensch als Tier: Das Tier wird zunehmend vermenschlicht obwohl die beiden noch nicht wissen, dass es sich tatsächlich um ein Tier handelt.
6 Linda, Monika Traum 1
Linda kauft im Supermarkt ein, die Supermarktleiterin Monika bedient sie (sie kennen sich gut, haben den selben Nachnamen)
Linda erzählt von Wolf. Dann spekulieren sie gemeinsam über das mögliche Naturreservat und darüber, dass Linda ihre Stelle in der Therme verlieren wird.
Monika erzählt von ihren Aussichten auf eine Stelle in Holland.
Dann nocheinmal Gespräch über Wölfe, dass sie doch eigentlich im Rudel leben.
Prosaszene

1. Begegnug zweier „Episoden“: Linda besucht Monika im Supermarkt

Motive: Wolf und Rudel (= primäres verbindendes Element in Anfangsszenen!), Kapitalismus („was danach kommt, wird lukrativ, Im Sinne der Allgemeinheit.“), magnetischer Finger, Traum
7 Finn Wachen 3
Jemand klingelt an Finns Tür. Er überlegt, wer es sein könnte: Jemand, der besorgt ist oder doch nur ein Unternehmensvertreter.
Er „überlegt lange“, ob jemand kommen würde, um die Tür aufzubrechen
Prosaform

Wiederholungen: „Er überlegte lange.“
8 MIRA, GABI Termin
Gabi und Mira sprechen über Miras Abtreibung: sie hat einen Termin für morgen, 9.45 Uhr.
Gabi argumentiert halbherzig gegen die Abtreibung: Ihr Kerl sei ja noch da.
Mira: Kerl nimmt sie nur mit Kind, will das Kind aber trotzdem nicht.
Danach mehr Infos über Miras Freund: Heißt Josef Erbarmen, ist Bestatter, sie liebt ihn, lässt sich Tatoo mit seinem Namen stechen.
Dann wieder Gespräch, ob es sich nicht doch lohnen würde, das Kind zu behalten.
Dialogform

Sprechen über einen Dritten (erst das Baby, dann Josef)

Viel Schweigen

Komik
9 Thomas, Monika Aussicht 2
Rollen wirken wie vertauscht: Nun ist Thomas derjenige, der große Pläne für Holland schmiedet und Monika ist eher zurückhaltend:
Holländisch nicht so schwer.
Grundwortschaft schnell gelernt.
Kind (8 Jahre) lernt schnell.
Monika kann Fernabitur auch dort zu Ende machen.
Dann stößt er selbst auf ein Problem: Er könnte nicht mit ins Ausland, da er im Innendienst arbeitet.
Monika schlägt vor, er könne sich ja nach Aachen versetzen lassen. Thomas willigt nach einigem Widerstand ein, mit seinem Chef darüber zu sprechen.
Zweites Problem: Für Familie wird nicht viel Zeit bleiben. Monika: „ich würde erst mal alleine nach Holland ziehen. Müssen.“
Viel Schweigen.
Dialogform

Motive: Grundwortschatz, Fernabitur, Innendienst
10 ERWIN, Linda Sonntag 1
Linda besucht ihren Vater im Altersheim.
Gespräch über:
- Grauer Star OP: L. will, dass er sich operieren lässt, E. will nicht.
→ Grauer Star wäre nur der Anfang einer Reihe von OPs
- Verlorenes / gestohlenes Fernrohr: E. verdächtigt jemanden, sagt aber nicht, wen
- Es wird klar, dass Linda Erwin (frühzeitig?) ins Altersheim „abgeschoben“ hat. Er will mit den „Dementen“ nichts zu tun haben
- L. kommt jeden 4. Sonntag, E. ist von ihr gelangweilt / genervt
- Versicherungen: Man kauft Gewissheit, dass einem nichts schlimmes zustößt. Höhere Gewalt vs. Menschliches Versagen
- L. meint, er würde über das Versicherungsgespräch zu Finn überleiten wollen. Sie will nicht über ihn sprechen.
- Stattdessen erzählt L. von ihrer Wolfsichtung und ihrer unsicheren Arbeitsstelle
- E. schläft dabei ein.
Dialogform

Längste Szene im Stück?

Motive: Tiere (toter Star, Wolf), Augen (grauer Star, Fernrohr) wissenschaftlicher Fortschritt, Fernrohr, Essen als Beschäftigung, Höhere Gewalt vs. Menschliches Versagen: sekularisierte Welt.

Gesellschaftliches Problem: Überalterung

Komik: Erwin schläft ein, Logik eines alten Mannes etc.

Beziehungen werden klarer: Erwin ist Lindas und Finns Vater.
11 Linda (imaginärer Rainer) Traum 2
Linda träumt davon, wie es sein wird, wenn ein „Nationalpark“ entsteht.
- jede Menge Tiere
- Wohlstand für alle
- Rainer kommt zurück
- Rainer wird den ganzen Park zusammen mit ihr leiten
Prosaform
Gesellschaftliches Problem: keine Arbeitsplätze, keine Selbstverwirklichung

Motive: Wolf, Traumwelt

Linda kann sich in realer Welt nicht verwirklichen, tut dies also in der Scheinwelt
12 Herr Schmitt, Frau Schmitt Spuren 2
Herr und Frau Schmitt warten auf das Tier.
Herr S. erläutert seiner Frau, wie sie vorgehen werden: Warten, bis sie das Tier sehen. Dann wird es wissen, dass sie es sehen können.
Das Tier wird immernoch menschlich behandelt: „mit ihm reden“.
Herr S. will nicht schlafen, bis sie das Tier sehen.
Dann findet er einen Zigarettenstummel: Endlich bestätigt sich, dass das Tier eigentlich ein Mensch ist: „Das Tier raucht -.“
Dialogform

sehr komische Szene

Motive: menschliches Tier, Augen
13 Finn Wachen 4
„Inventur“
Zuerst wird rezeptartig beschrieben, was Finn in der letzten Woche gegessen und eingenommen hat.
Dann beginnt Finn selbst, alle Statistiken an die Wand zu schreiben:
Zuerst nur Zahlen & Daten
Dann Namen
Dann Ursachen für Zerbrechen der Beziehungen
Müdigkeit beendet die Szene
Prosaform

Info: Finn arbeitet ebenfalls als Versicherungskaufmann (wie Vater Erwin)

Motive: Essen (Rezept, Inventur), Statistik, Versicherung

Finn entpuppt sich als sachlicher Chronist, ähnlich einem sachlichen Autor
14 Thomas, Monika, (Kind) Abends
Ein Typischer Abend der beiden wird beschrieben:
Monika arbeitet nach Feierabend an Fernstudium, Thomas schaut Fern, das Kind schläft.
Thomas nötigt M. einen Spaziergang ab, doch sie haben nichts zu bereden und keine Energie
Prosaform

Motive: digitale Welt: Bildschirme aller Art, Spaziergang
15 Mira, JOSEF Fragen 1
Josef will mal wieder wissen, warum Mira das Kind abtreiben will.
Er macht ihr Mut: er habe neues Geld, könne einen neuen Job anfangen
Der Altersunterschied sei es nicht, sagt Mira.
Der Wahre Grund: Sie kennt ihren Vater nicht, weiß also nicht, wer sie selbst ist und will das auch keinem Kind zumuten.
Sie ist aus einer Samenspende entstanden.
Josef will ihren richtigen Vater finden.
Mira glaubt nicht, dass er viel dafür tut
Josef fragt, was ihr die Gewissheit nützen würde.
Mira: Das entscheide ich dann.
Mira in 3. Person: Sie ist nicht zum Abtreibungstermin gegangen.
Dialogform ABER stellenweise in 3. PERSON!

Probleme: Arbeitslosigkeit, Vaterlosigkeit, künstliche Befruchtung (DDR)

Motive: Tomason durch unbekannten Vater: „Sie kann ih nicht mal hassen für seine Fehler.“ Nutzen von Gewissheit!

Komik
16 Gabi, RAINER Zu zweit
Gabi ist mit Rainer (Tscheki) auf Wohnungsbesichtigung.
Plötzlich starrt Rainer gedankenverloren aus dem Fenster (denkt er an Linda?)
Gespräch darüber, ob das Leben schön ist.
Gabi: „Das Leben, das ist wie Sprechen lernen. […] Jeder kann das lernen.“
Rainer: „Ich weiß nicht, wie das gehen soll.“
Dialogform

Probleme: Verstädterung (in Vorort fahren keine Busse mehr!), Überalterung

Motive: Versicherung, Schwimmen / Schwimmbad (Therme!) Banalität des Todes.
17 Linda, Erwin Sonntag 2
Noch am selben Sonntag: Linda und Erwin wieder erwacht.
Linda macht E. Hoffnung, dass er im Wildpark wieder etwas zu tun hätte.
Erwin weiß, dass sie nur mal wieder geträumt hat.
Erwin: Der Bus fährt nur 2 mal die Woche in die Stadt.
Erwin will zu Finn fahren.
Linda will nicht, dass er das tut. (Wie viel weiß sie über Finn?)
Erwin will Augen-OP für Finn eintauschen.
Linda antwortet nicht.
Erwin erzählt von altem Mann, der gestern (beim Einscheißen) gestorben ist.
Er erzählt, wie er letzten Sept. noch mit ihm schwimmen war.
Beide müssen lachen.
Linda geht.
Erwin ruft nach Finn, er solle ihn hier raussholen
Dialogform

Probleme: Verstädterung (in Vorort fahren keine Busse mehr!), Überalterung

Motive: Versicherung, Schwimmen / Schwimmbad (Therme!) Banalität des Todes.
18 Finn Wachen 4
Finn hat nichts mehr zu essen.
Er zählt die Paar Münzen, die er noch in seinem Geldbeutel findet.
Er überlegt, was man davon kaufen könnte. Er stellt sich vor, wie er auf dem Weg nach draußen kollabieren würde.
Er trinkt stattdessen ein bisschen Wasser, das muss reichen.
Prosaform

Bei Finn immer viele Wörtliche Wiederholungen (seine Gedankenabläufe kreisen)

Motive: Euromünzen (Zeitbezug)
19 Polizeiwache, Thomas, IRA 43 Jahre
Ira erzählt Polizeikommissar von der Nacht im Hotel, als ihr Ehemann sie verließ
Thomas checkt die Fakten: Hat er eine Nachricht hinterlassen, wieso ist er ohne Gepäck gegangen, vermuten Sie, dass ihm etwas zugestoßen ist?
Ira: Er hat wohl nur einen Spaziergang gemacht.
Für Thomas wäre ein solcher Spaziergang in einer Fremden Stadt etwas ungewöhnliches. Für Ira nicht.
Sie vermutet, vielleicht wurde er „wegen des Geldes“ ausgeraubt. Sie fragt, was Thomas jetzt unternehmen würde.
Thomas beschwichtigt: er sei jetzt als vermisst bekannt.
Ira fängt an, ihr GEDICHT zu singen. Sie will warten, bis ihr Mann gefunden wurde.
Thomas beschwichtigt sie weiter: er sei ja erst seit 3 Tagen weg, es könnte eine Kleinigkeit sein.
Jetzt beschimpft Ira Thomas: Das war doch schon vor 43 Jahren!
Ira gibt zu, dass sie ihn vermisst. Jetzt.
Dialogform

zweitlängste Szene?

Motive: Spaziergang (T. will Spaziergänge mit M. machen, hält es aber für unwahrscheinlich, dass ein Mann nachts einfach einen Spaziergang alleine macht: „Wahrscheinlich würde ich nicht ohne sie gehen“!) Warten (vgl. Herr und Frau Schmitt)

Sehr auf Pointe Konstruiert.

Irritiation: Jetzt, nach 43 Jahren, entscheidet sie, dass sie ihn vermisst!
→ Wenn die Figuren Diebe sind, dann stellt dieses Stück in sie in Momenten da, in denen sie gerade im Begriff sind, aus dieser Rolle auszubrechen: Sie wollen sich nicht mehr durchs Leben stehlen sondern wollen es jetzt langsam wissen!
20 Finn Wachen 6
Finn fallen die Kleingeldmünzen ein, die er damals, auf Reisen, gesammelt hat.
Er beginnt, sie zu essen.
Er isst das auf, von dem er früher nie genug kriegen konnte.
Prosaform

Motive: Euromünzen und ältere Münzen (Zeitbezug!), Geld!
21 Schmitts, Josef Spuren 3
Herr S. hat Josef gefunden: Er hat die vermeintlichen Tierspuren hinterlassen!
Josef erklärt: Er wollte die beiden nur beobachten, jetzt ist dieses 'Forschungsprojekt' leider gescheitert. → fragt, ob er ein paar Tage bleiben darf, um mehr über sie zu lernen.
Herr und Frau S. beraten, ob sie J. aufnehmen sollen: sie kommen von seiner Forschung auf Gencodes, Satelliten und Überwachungsstaat.
Sie erzählen J. von ihrer Tochter, die in Tasmanien lebt.
Josef fragt, ob S. auch noch andere Kinder gezeugt habe.
Herr S. gibt zu, damals Samenspender gewesen zu sein.
J. will mehr erfahren, S. blockt ab: ihr leben sei „bis an die Ränder ausgefüllt […] mehr hat nicht Platz.“
Dialogform

Zeitbezug: Zukunftsvorstellung: Satelliten, Chips, Gencodes → Überwachungsstaat

Motive: Geld!, Überwachungsstaat, Auge!, Fortschrittsglaube/Skeptik, glückliches Leben

Spätestens hier: Schmitts sind völlige Karikaturen
22 Thomas, Monika (Kind) Urlaub
Thomas Monika und Kind sind im Urlaub.e Das Kind rennt voraus, alle drei driften auseinander, Thomas ist allein.
Er geht gedankenverloren weiter, wünscht sich, „ohne Kampf zu sein“.
Auf dem Deich erlebt er einen Moment des Glücks, muss Lachen.
Dann sieht er M. und Kind, die zu weit auf den Stand hinausgelaufen sind. Die Flut droht, sie zu verschlucken. Er rennt auf sie zu.
Prosaform

Motive: Kampf, Glück, Lachen und Elend nah aneinander (Wie Linda bei Rainer!)
23 Thomas, Gabi Überraschung
Gabi erzählt Kommissar Thomas ausführliche Geschichte:
- Fährt mit Rainer mit Auto zu Abendessen mit Minister
- Hat lachsfarbenes Kostüm an.
- Er verfährt sich. Abendessen war wohl nur ein Köder.
- Sie hatte ihm 3000 € geliehen: ihr gesamtes Erspartes, fragt ihn im Auto, wann sie es zurückbekommen würde, Rainer vertröstet sie
- Rainer hält an, will Adresse aus Kofferraum holen
- Findet Adresse nicht, will ihr dafür eine Halskette um den Hals legen, versucht, sie zu erdrosseln.
- Gabi wehert sich erfolgreich, lässt sich dann von ihm nach hause fahren
Thomas erklärt, das war geplanter Mord mit Vorsatz und wahrscheinlich aus niederen Motiven (3000 €).
Gabi widerspricht dem und sagt, sie wolle Rainer im Übrigen gar nicht zur Anzeige bringen.
Dialogform

Motive: Der Minister als Wunschtraum (vgl. Warten auf Godot), Fragezeichen!, Halskette, Kleid

Sehr „komische“ Szene: Thomas persifliert den faulen Polizisten
24 Finn Aufwachen
Finn schüttet Asche aus dem Fenster (wie eigene Asche verstreuen). Verspürt „Angst im Freien“. Wechsel in Präsens: Springt aus dem Fenster
Prosaform

Motive: Asche (Selbstbestattung), Augen → The Hours!
25 Thomas, Monika Trennung
Thomas erzählt von seiner Trennung von Monika:
- Sie haben es ausgesprochen und dann hat keiner was gesagt, es war ein taubes Gefühl, wie beim Blutspenden.
- Dann sagt Monika: Es wird sich was ändern. Kommt Thomas wie Untertreibung vor, die Familie bricht ja auseinander.
- Danach steht Monika auf und fällt in Ohnmacht
- Thomas holt den Notarzt
später in der Notaufnahme hat sie ein Einschussloch im Kopf (aber nicht direkt danach, da sie im 2nd Hand Shop zusammengeklappt ist!)
Prosaform

Motiv: Vergleich zwischen Taubhaut nach Trennung und Blutspenden → endet folgerichtig auch in Ohnmacht, nachdem Monika zu schnell aufgestanden ist.
26 Linda, Josef Morgen
Linda wird über Finns Selbstmord benachrichtigt. Sie sucht den Bestatter Josef auf.
Linda fragt, ob er keine Nachricht oder ähnliches hinterlassen habe. Hat er nicht.
Nur den Wohnungsschlüssel, das hätte der geistesabwesende Josef fast vergessen
Er gibt ihr einen Karton mit ein paar Habseligkeiten von Finn: Schuhe, Halstuch, Papier mit Gedicht darauf.
Auf dem Halstuch 4 Bluttropfen: einer in der Größe einer Münze, einer der der Größe eines Reiskorns.
Der Zettel mit dem Gedicht lässt ihren Atem stocken.
Gespräch über Einäschung / Bestattung / Sarg
Linda ist geistesabwesend, spiel mit dem Wort „Fall“
Sie nimmt die Asche ihres Bruders mit
Prosaform

Motive: Mensch = Tier (Halstuch „dreckig wie für einen Hundehals“), Brief (vgl. Iras Mann, der auch keinen Brief hinterlassen hat), Asche, Münzen und Reis
27 Erwin, Ira Haltestelle
Ira und Erwin warten auf den Bus. E. beschwert sich, dass er nur noch unregelmäßig kommt.
Ira: man will nicht aufstehen, man verharrt im Nichtstun, denn sonst kommt der Bus wahrscheinlich genau im falschen Moment.
Ira hat Erwin ebenfalls von ihrer 43-Jahre-Warteaktion erzählt.
Erwin erzählt von seiner Einsamkeit: von seinen 2 Frauen, die ihn verlassen haben und seinen beiden Kindern. Der Junge hatte einen Zeckenbiss, er hat ihm befohlen, zu kämpfen.
Ira: Sie dachte, die Reise mache sie frei, aber als er weg war wusste sie nicht, was sie mit ihrer Freiheit anfangen sollte. Sie hatte Angst, für etwas kämpfen zu müssen. → Diebe-Metapher!
Erwin begreift sich als das Gegenteil von Ira: er könne Dingen nicht „ihren Lauf lassen“. Er erzählt von seinem ehemaligen Job als Versicherungsagent: Spezialbereich Höhere Gewalt: in 95 von 100 fällen konnte er nachweisen, dass nicht höhere Gewalt sondern menschliches Versagen verantwortlich war.
Übrigens habe sein Sohn den selben Job und rufe ihn täglich von seinen Weltreisen an. Er nennt seinen Nachnamen: Tomason (auch er weiß, dass es sich dabei um eine japanische Erfindung handelt) Sie nennt ihm ihren: Davidoff.
Sie verabreden sich lose im „Rostigen Anker“
Dialogform

Motive: Bus (Verstädterung), Warten, weil man was verpassen könnte (auf Godot) → Diebe, Kämpfen, Freiheit, Höhere Gewalt vs. menschliches Versagen, Tomason
28 Linda Gang
„Linda Tomason geht mit der Urne durch die Stadt, die sie nicht kennt“.
Die Umgebung (Häuser, Vögel) vermenschlichen sich in ihren Gedanken.
Sie schließt die Urne in ein Bahnfhof-Schließfach
Prosaform

Motive: Mensch = Tier (Vogel vgl. (grauer) Star!), Asche, Stadt
29 Monika Aussicht 3
Monika erzählt in Monologstil ihrem Vorgesetzten bei einem Bewerbungsgespräch davon, wie sie ihren vorherigen Job verloren hat:
Die Holländer haben sie übernommen, nicht andersrum.
Ihr Chef hatte eine Liste mit zu Entlassenden. Da habe sie gemerkt, sie „kein Individuum“ (S. 86) sei. Trotzdem wollte sie zeigen, dass sie Humor hat.
Ihr Gegenüber scheint nicht sonderlich angetan.
Prosaform

Probleme: Arbeitslosigkeit, Entfremdung im Kapitalismus

Motive: Fernabitur, Blitzschlag, Liste, Humorvolle

Programmatische Stelle für gesamtes Stück: „Da hab ich gemerkt, dass ich kein Individuum bin. Aber die Nerven bewahren, und zeigen, dass man Humor hat, auch in kritischer Situation.“ (S. 86)
30 Linda, Rainer Freunde 1
Rainer sucht Linda auf, um sie über den verstorbenen Finn zu fragen (R. war anscheinend mit ihm befreundet)
Linda erzählt R., dass F. gesprungen ist
R. erzählt von den Spaziergängen, die er damals mit F. gemacht hat. Er vergleicht F. mit einem Baloon mit einer dünnen Haut.
R. fragt L. nach den 10 Mio €, die er F. zum Anlegen gegeben hatte.
L.: Er hat nichts hinterlassen, alles vernichtet. Sie vermutet, dass er auch schon lange keinen Job mehr hattte.
Das einzige, was von F. übrig sei, seien die Wände, die er vollgeschrieben hat (auch mit Gedichten!)
Sie liest eine Stelle aus dem Gedicht auf dem Zettel vor.
R. meint, das bringe sie nicht weiter, gibt dann aber doch zu, dass das fremdsprachige Gedicht schön klinge.
Den Rest des Gesprächs erzählt Linda in 3. Person:
R. habe die 10 Mio für seine Kinder zurückgelegt und für seine Frau, allesamt Zukunftswesen, die noch nicht existieren.
Sie findet ihn krank aber nett. → Anfang einer Freundschaft (Titel)
Dialogform + ganz am Ende 3. Person

Motive: Spaziergang, Ballon, Kapitalismus und Geld („Kapitallebensversichung mit Zinsgarantie“), Finn als Dichter/Autor, „Macht“ der Posie → auch wenn es in einer fremden Sprache ist und man es nicht versteht hat es einen schönen Klang, vielleicht reicht das schon aus, imaginäre Familie
31 Schmitts, Josef Spuren 4
Josef hat die Schmitts nun einige Zeit beobachten können. Er wirft ihnen vor, dass sie selbst keine Fragen stellen, nichts wissen wollen. Dass sie ihm nicht Auge in Auge begegnen wollen. Dabei könne er sie zu ihrem Samenspenden-Kind führen.
Die Schmitts wollen das nicht.
Josef sagt, er sehe dass sie nicht glücklich seien. Er zieht sich nackt aus und bietet den Schmitts an, ihn zu schlagen und zu misshandeln.
Die Schmitts wollen nicht.
Josef will sie überzeugen, dass es ihre Verantwortung ist. Schließlich gibt er zu, dass er durch den Aufenthalt bei den beiden ganz „leidenschaftslos“ geworden ist.
Daraufhin erschlagen die Schmitts ihn.
Dialogform

Überthema: Verantwortung für die eigenen Entscheidungen tragen, nicht passiv bleiben.
Motive: Mensch = Tuer (Fr. Schmitt über Josef: „er ist das Tier.“), Augen → jemand in die Augen sehen können, jemand konfrontieren mit dem, was man ist, Gewalt, Glück, Spuren
32 Linda, Rainer Freunde 2
Rainer und Linda sind sich schon näher gekommen: R. würde L. gerne ein Gedicht schreiben, sie zumindest mal zum Essen einladen. In die Natur will er jedoch nicht.
Linda erzählt von ihrem ehemaligen Verlobten, der ebenfalls Rainer hieß. Der hatte es mit der Natur. Er habe sie verlassen, habe immer weit weg gewollt. Sie habe stattdessen immer vor Ort ihr Glück finden wollen.
→ Die Hoffnung auf den Wildpark repräsentiert genau diese Hoffnung, dass das Glück sich vor ihrer eigenen Haustür ausbreitet. R. könne doch Trainer im Wildpark werden.
Dann erzählt L. von damals, als sie vom Blitz getroffen wurde. Ex-Rainer rannte ins Auto ohne sie mitzunehmen. Vom Blitz getroffen zu werden sei viel stärker als verliebt zu sein.
Rainer sagt, er kenn solch starke Gefühle nicht.
Nur in bestimmten Momenten könne er sich gehen lassen. Wie jetzt.
Dialogform

Rainer und Linda stets sehr philosophisch

Motive: Natur vs. Stadt, Glückliches Leben, Wildpark, Geld, Wolf, Blitz, magnetischer Finger, starke Gefühle, Ohnmacht (vgl. Monika)
33 Monika, Gabi, Mira, Hr. Schmitt (Arzt!) Kopfweh
Mira und Gabi haben Monika zur Notaufnahme gebracht, nachdem sie mit Kopfschmerzen in Gabis 2nd Hand laden ohnmächtig wurde.
Die Kopfschmerzen werden nicht besser, Gabi hat vergessen, ihren Laden abzuschließen.
Plötzlich stellen sie fest, dass Monika ein Einschussloch im Schädel hat. Herr Schmitt kommt hinzu, fragt, wo die Kugel sei, und will gleich notoperieren.
Dialogform

Szene mit 4 Figuren!

Motive: Bus, Warten aus Angst in Abewesenheit könne etwas passieren (vgl. Ira), „Natur ist grausam“
34 Linda, Rainer Freunde 3
L. fragt, wie es weitergehen wird.
R. sagt, im Leben verändere sich alles so unmerklich langsam.
Linda erzählt von der Therme, wo sie manchmal alleine badet.
Rainer sagt, er muss alleine verreisen.
Linda liest einen Wand-Eintrag von Finn vor: Eine Kinderheitserinnerung an seine Erkrankung, sein Vater habe ihm geraten, zu kämpfen (Erwin hat diese Geschichte auch schon aus seiner Perspektive erzählt!)
Der Titel dieser Geschichte: Angst im Freien!
Linda bezweifelt inzwischen, dass Rainer Finn gut gekannt habe und dass er ihm Geld geliehen habe.
Rainer bezweifelt seinerseits, dass Finn eine Kämpfernatur war. Als Beleg erklärt er ihr, wie Finn ihm die Bedeutung des Namens Tomason erläutert habe. Finn habe sich schon immer als Ding ohne Zweck gesehen.
Linda zweifelt das mit dem Geld erneut an. Vielleicht verhalte es sich genau umgekert: R. schulde Finn geld.
R. gibt zu, dass er L. etwas verschwiegen hat, sagt dann aber nicht, was.
Stattdessen verabschiedet er sich.
Dialogform

sehr philosophische Szene

Motive: Therme, Geld, Kämpfen, Angst im Freien, Tomason
35 Mira Fragen 2
Mira weiß, dass es für die Abtreibung nun zu spät ist.
Sie wünscht sich, sie hätte nicht nach ihrem Vater gefragt.
Zur Adoption will sie das Kind nicht freigeben.
Jetzt ist es zu spät.
Wiederholt sich in Schlaufe.
Prosaform

Endlose Wiederholungen der selben Gedankengänge.
36 Linda, Erwin Sonntag 2
Linda ist bei Erwin, um ihn über Finns Tod zu unterrichten, bringt es dann aber nicht übers Herz.
Stattdessen sagt sie, Finn sei in Japan in „eine Art Klausur“ gegangen.
Erwin fragt sich, was er mit Japan will. Er bemerkt, dass Linda sentimental gestimmt ist, denkt aber, sie halte ihn wohl für senil.
Linda hat E. Finns Halstuch mitgebracht.
E. will nicht am Halstuch riechen: „Ich bin doch kein Hund“
Dann entdeckt er die Bluttropfen. Er will sofort nach Japan reisen.
Linda schweigt.
Erwin versteht, dass Finn gestorben sein muss: „Was es Höhere Gewalt. - Sag mir. - War es Höhere Gewalt.“ (S. 112)
Dialogform

Motive: Japan (Tomason), Halstuch, Mensch = Tier, Höhere Gewalt.
37 Linda, Erwin, Thomas, Monika, Kind Und dann
Linda betritt ein Lokal.
Darin: Erwin wartet allein an einem Tisch.
Thomas und Kind warten auf Monika, die auch kommt und sich zu ihnen setzt.
Monika erkennt Linda nicht oder tut nur so.
Erwin erkennt, dass Ira ihn wohl versetzt hat.
Linda lässt mit ihrem magnetischen Finger das kleine rote Spielzeugauto über den Tisch fahren.
Das Kind lächelt.
Prosaform

Problem: Alleinerziehender Vater.

Motive: magnetischer Finger, Spielzeugauto

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